www.holzauge.de erreichte per Mail ein Leserbrief, der eigentlich an den SPIEGEL gerichtet war, den diese Zeitschrift  aber nicht abdruckte. Der Leserbrief  -  dessen Schreiber holzauge.de bekannt ist, doch hier nicht genannt werden möchte  -  war eine Reaktion auf ein SPIEGEL-Essay (Nr. 47/2009) unter dem Titel „Bruder IM“.  

 

 

 

Das „westliche Bewältigungsmandat“

Marginalien zu einem SPIEGEL-Essay

 

Obwohl sich Jan Fleischhauer in seinem Essay „Bruder IM“ um „versöhnende“ Objektivität zu bemühen scheint, argumentiert er letztlich wie all die anderen ideologischen Heilsbringer seit zwanzig Jahren. Er unterstellt „den verbrecherischen Charakter des untergegangenen Systems“ DDR und wundert sich, dass eine beträchtliche Zahl der Bewohner dieses Landes sich als Besiegte empfinden und nach wie vor nicht bereit sind, nach der „den Diskurs bestimmenden“ Pfeife der „westdeutschen Öffentlichkeit“ zu tanzen. Er beklagt eine „Ablehnung des bürgerlichen Rechtsstaats“, die „in Teilen Ostdeutschlands längst wieder mehrheitsfähig ist und leider auch nicht auf die Erlebnisgeneration beschränkt bleibt, sondern über das familiäre Gespräch und den schulischen Unterricht weitervererbt wird.“

Welch bezeichnende, sich selbst desavouierende Argumentation! Und welch praktikabler neuer Begriff: Erlebnisgeneration! Nur nicht den wahren Ursachen auf den Grund gehen. Immerzu giften und verleumden. Woraus resultiert denn die „Ablehnung des Rechtsstaats“? Etwa aus grundsätzlicher Halsstarrigkeit ehemaliger DDR-Bürger? Durchaus nicht! Sondern: Weil jede Generation eine „Erlebnisgeneration“ ist, und nun bereits seit zwanzig Jahren von Generation zu Generation „erlebt“ wird, was unter „Rechtsstaat“ eigentlich zu verstehen ist: nämlich Hochburg der Korruption (14.Stelle weltweit!) sowie Herrschaft der Heuschrecken, Gauner und Lügner (von Ackermann bis Zumwinkel) und Demütigung des kleines Mannes (von der Shop-Kassiererin bis zu den von der Arbeit frei gesetzten Arbeiterinnen und Arbeitern der volkseigenen Kombinate und Betriebe oder bei Nokia, Karstadt, Quelle usw. usw.). Derlei die Lebensexistenz bedrohende „Klassen“-Widersprüche gab es nicht in der DDR, und das vergleichen halt die Generationen, ob das nun Jan Fleischhauer und all die anderen Sprücheklopfer wollen oder nicht.

Stichwort Erlebnisgeneration! Als ich 1945 als Oberschüler irgendwie sinnvoll mittun wollte begab ich mich ins Rathaus zum dort inzwischen für die Jugend zuständigen Vertreter der Obrigkeit. Wer empfing mich hinterm Schreibtisch? Ein Lehrer aus der Oberschule, der uns Schüler noch kaum einen Monat zuvor im Klassenzimmer täglich mit zackigem „Heil Hitler!“  begrüßt hatte. Jetzt empfahl er mir, erst einmal die Klassiker zu lesen, denn jetzt gehe es um die Freiheit. Und er überreichte mir ein abgegriffenes Reclam-Heftchen von Goethes „Faust“. Ich verließ das Rathaus mit mulmigem Gefühl. Wie konnte das sein, dass einer sich von heute auf morgen so wendete! Sollte ich mir von dem weiterhin sagen lassen, was richtig sei im Leben? Auf dem Marktplatz damals: Amerikanische Soldaten. Sie hatten ihren Panzer abgestellt und trieben Sport, sie warfen sich einen komischen Lederkneuel zu. Hier, schwante mir, residierte die eigentliche neue Obrigkeit. Einige Wochen später war sie gen Westen abgezogen. Aus dem Osten war eine neue Macht eingezogen: die Sowjetarmee. Und im Rathaus hinterm Schreibtisch saß jetzt ein ausgezehrter, schlecht rasierter Graukopf und sprach mit brüchiger Stimme von Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. So lief das damals! Ich landete bei der CDU, weil ich mich für den christlichen Sozialismus interessierte. Und die Diktatur des Proletariats, die der einzige Jungkommunist unserer Klasse damals favorisierte, fand ich nicht angemessen, kurz nachdem gerade eine Diktatur beendet worden war. Die demokratische Schülervertretung, die ich gegen den Widerstand der Lehrer ins Leben rief, passte alsbald nicht mehr ins Bild. Sie musste der FDJ weichen. Immer wieder Polarisierungen, Herausforderungen. Dennoch: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Allein diese beiden Losungen hatten ungeheure Wirkung auf einen jungen Menschen, der gerade noch zu jung gewesen war, um im Krieg verheizt zu werden. Und diese Losungen wurden im Osten gelebt! Faschisten aus den Ämtern entfernt. Beunruhigend hingegen die Nachrichten aus dem Westen. Dort herrschte ja nicht nur das „kommunikative Beschweigen“, sondern systemerhaltendes Wiedereingliedern der Faschisten. Globke, Filbinger usw. Mit diesen deutschen Monstern schien „christlicher Sozialismus“ höchst unwahrscheinlich, Adenauers Wirken eher abstoßend. Was offenbar auch große deutsche Geistesschaffende so sahen. Dichter wie Anna Seghers, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Arnold Zweig und Friedrich Wolf kamen in den Osten, Künstler wie Helene Weigel, Ernst Busch, Hanns Eisler, Paul Dessau, Eduard von Winterstein, Gustav von Wangenheim. Untadelige, vertrauenswürdige Persönlichkeiten. Orientierungshilfen für einen jungen Menschen? Und ob! War man geneigt, Politikern nicht unbedingt zu glauben, ihnen, diesen deutschen Humanisten zu glauben, fiel nicht schwer. Die von den Faschisten verbotenen Marx und Engels schließlich gaben Auskünfte, die den Versuch eines neuen antifaschistischen Staates des Fortschritts und des Friedens erstrebenswert erscheinen ließen. Erstrebenswerter jedenfalls als die Restauration des deutschen Monopolkapitals. So war mir die CDU keine geistige Heimat mehr; denn unter ihrer Führung wurde im Westen die deutsche Spaltung initiiert. Die separate Währungsreform war das erste unübersehbare Zeichen.  

Weil wir Deutschen im Osten des Landes seit 1945 unsere ureigenen Erfahrungen haben, werden sich die „Rechtsstaat“-Dogmatiker immer wieder über uns „Demokratieverächter“ ärgern müssen. Und zwar so lange sie in unsäglicher Weise die sogenannte „zweite deutsche Diktatur“ mit dem faschistischen deutschen Staat gleichsetzen. Die Faschisten haben Europa mit Krieg überzogen und Abermillionen Tode verschuldet. Die DDR hat Millionen Akten hinterlassen. Ich glaube nicht, dass die „Rechtsstaat“-Dogmatiker nicht fähig wären zu begreifen, dass solch gravierende Unterschiede  beachtet werden müssten. So dämlich sind diese Herren nicht. Aber dann müssten sie die Lebensleistungen der DDR-Bürger anerkennen, müssten anerkennen, dass die Frauen und Männer aus quasi „Nichts“, aus einer Trümmerwüste, einen schließlich weltweit anerkannten Staat gemacht hatten. Und zwar nicht, weil sie das a priori wollten, sondern weil sie von ihren westdeutschen „Brüdern und Schwestern“ allein gelassen worden waren („Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb!“). Die Ausgegliederten haben sich auf sich selbst besinnen müssen, haben sich ohne Dollarhilfe einigermaßen eingerichtet im kleinen Land, obwohl die „Brüder und Schwestern“ aus dem Westen unablässig gestänkert und gestört haben. Eine lange, lange „Erlebnis“-Liste der Aktionen gegen die „Zone“ und dann gegen die DDR. Keiner der „Rechtsstaat“-Dogmatiker will das wahrhaben, schon gar nicht, welchen Anteil die Geheimdienste hatten.

Geheimdienste! Durchaus ein ganz eigenes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte. Ohne Zweifel: Die Beschnüffelung der DDR-Bürger durch ihre Obrigkeit gehört wahrhaftig ins Guinnessbuch der Rekorde. Selbst wenn heutzutage per Internet und modernen Abhörmethoden alles viel einfacher und umfangreicher praktiziert werden sollte. Aber solange die westdeutschen Geheimdienst-Akten geschlossen bleiben, solange wird die Ungleichbehandlung der Deutschen bei den Ossis immer wieder Skepsis befördern in Bezug auf den „Rechtsstaat“. Oder will jemand ernsthaft in Abrede stellen, dass die Liquidierung der DDR nicht etwa massiv von den „Brüdern IM“ der Westdienste befördert worden ist? Wer kennt und nennt zum Beispiel  die Zahl der Anstifter, die damals aus dem Westen nach Leipzig geschickt wurden, um dort statt „Wir sind das Volk“ lauthals „Wir sind ein Volk“ zu rufen!? Und wo sind die Rufer nach Flugscharen statt Schwertern geblieben? Ist der „Rechtsstaat“ nicht weltweit mit Schwertern unterwegs? Die Rufer werden nicht mehr gebraucht! Und letztlich: Wer, der heute in Schlüsselpositionen in Wirtschaft, Politik und in den Medien sitzt, hat sich den Posten mit seinem Wirken für einen westlichen Geheimdienst fleißig erspitzelt? Solange darüber nicht offen berichtet wird, ist etwas faul am „westlichen Bewältigungsmandat“.

 

 

 

30.11.2009