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Egon Krenz zum 9.
November 1989
Interview aus „Neues Deutschland“ vom 9.
November 2004
Wem verdanken wir die Grenzöffnung am 9. November 1989, den Grenzbeamten
an der Bornholmer Straße, Günter Schabowski, Ihnen?
Es gab einen Beschluss des Ministerrates,
die Grenzen am 10. November zu öffnen. Dieser wurde auf der Sitzung des
Zentralkomitees der SED am 9. November bestätigt und ich habe ihn Günter
Schabowski für die Pressekonferenz gegeben. Ich nehme an, Schabowski war
unkonzentriert, als er dort sagte, dieser Beschluss gelte »sofort«, und nicht
erst ab dem folgenden Tag. Normalerweise ist das ein Lapsus. Aber Schabowski
war Vorsitzender der Einsatzleitung in Berlin, er kannte die Situation an der
Grenze. Er konnte sich ausrechnen, dass man eine solche Verordnung nicht sofort
in Kraft treten lassen kann, wenn die Grenzsoldaten noch keine Befehle dazu
hatten. So bestand die Gefahr von unkontrollierten Aktionen, möglicherweise gar
einer bürgerkriegsähnlichen Situation, als so viele Menschen zur Grenze strömten.
In diese Situation hat Schabowski uns gebracht.
Sie gaben deswegen um 21 Uhr die Order: »Also, hoch mit den Schlagbäumen.«
Ja. Die Grenze an der Bornholmer Straße wurde gegen 23
Uhr geöffnet, dann weitere. Die größte Anerkennung verdienen die Angehörigen
der Grenztruppen sowie der Ministerien für Staatssicherheit und des Innern, die
mit der Situation sehr besonnen umgingen.
Sie sehen Ihre eigene Rolle zurückhaltend?
Ich mache einen Unterschied zwischen unserem Beschluss für
den 10. November und der ungeplanten Grenzöffnung am Tag zuvor. Es war unsere
Absicht, den freien Reiseverkehr zu regeln. Meine Entscheidungsmöglichkeit am Abend
des 9. November war nur, die Leute gewaltsam zurückzudrängen oder den Dingen
freien Lauf zu lassen. Wegen der wenigen Stunden wollte ich keinen Zusammenstoß
mit der Bevölkerung riskieren.
Wenn Schabowski den Beschluss richtig mitgeteilt hätte und es wären
trotzdem bereits am Abend des 9. November Leute zur Grenze gegangen, dann
wären sie zurückgewiesen worden?
Nein, wenn es eine ähnliche Situation gegeben hätte,
hätte ich ebenso entschieden. Wir wollten kein Chaos, das brenzlig werden konnte.
Wir hatten uns am 18. Oktober grundsätzlich gegen Gewalt ausgesprochen.
Waren Sie verärgert über Schabowski?
Natürlich habe ich gefragt: Wer hat uns das nur
eingebrockt?! Aber die Dinge waren in diesen Tagen so kompliziert, dass ich es
nicht auf ein persönliches Versagen reduzieren wollte. Das eigentliche Problem
war, dass die Reisefrage längst hätte gelöst sein müssen. Wir hatten ja den
ganzen Sommer und Herbst über die Ausreisen über Ungarn und die CSSR
wahrgenommen. Aber zu einer Lösung war die Führung im Land bis zum erzwungenen
Rücktritt von Erich Honecker am 18. Oktober nicht in der Lage.
Was Schabowski betrifft, habe ich keinen
Grund, ihn in Schutz zu nehmen. Er ist nach seiner Pressekonferenz einfach
nach Hause gefahren und hat Siegfried Lorenz, Wolfgang Herger und mich mit den
Folgen seines Versprechers allein im ZK gelassen. Seit 1990 hängt er seine Fahne
in den Wind. Das ist eine Frage des Charakters. Wer ins Politbüro kam, kann
sich nicht später als Mitläufer darstellen.
Sie waren am 1. November bei Gorbatschow in Moskau. In Ihrem Buch »Herbst '89« schreiben Sie, Sie hätten ihm gesagt, Mauer und Grenzregime passten nicht mehr in die Zeit. Wollten Sie seine Zustimmung zur Grenzöffnung?
Ich habe ihm gesagt, dass wir den
Reiseverkehr regeln müssen, und er hat geantwortet: Ja, wenn wir dafür keine
Regelung finden, wird es für uns nicht gut gehen. Wir haben dann den Entwurf
eines Reisegesetzes vorgelegt und am 6. November veröffentlicht. Dieser
Entwurf hatte aber noch viele administrative Einschränkungen, die Leute waren nicht
zufrieden, es gab Proteste. Sie wollten niemand mehr fragen, wohin sie reisen,
sie wollten reisen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, die Angelegenheit bis zu
einem endgültigen Reisegesetz durch eine Verordnung zu regeln.
Es gab und gibt den Vorwurf, Sie hätten nur die dauerhafte Ausreise neu
regeln wollen.
Ein solcher Vorwurf ist unberechtigt. Er
beruft sich darauf, dass wir auf der erwähnten ZK-Sitzung auch auf die Drohung
der CSSR reagieren mussten, die Grenzen zur DDR wegen des Ausreisestroms zu
schließen. Im Beschluss ist jedoch ausdrücklich und einschränkungslos von
Privatreisen die Rede. Formulierungen, dass dies nur zeitweilig oder ein
Übergang sein sollte, wurden vom ZK gestrichen.
Die SED-Führung hatte sich bislang nicht gerade willig gezeigt, freies
Reisen zu ermöglichen.
Ja, aber wir hätten dies auch nicht ohne die
Sowjetunion regeln können. Als Honecker 1987 im Saarland war und gesagt hat,
das Grenzregime zwischen der DDR und der BRD werde eines Tages so sein können
wie zwischen Polen und der DDR, da klingelte sofort das Telefon. Der
sowjetische Botschafter bat im Auftrage von Gorbatschow um Klarstellung, das
sei unerhört. Aber auch in Bonn war man sehr starrköpfig. Die Bundesregierung
hat uns in den 70er und 80er Jahren ja nicht mal ernsthaft geprüft. Wenn sie
damals darauf eingegangen wäre, die Staatsbürgerschaft der DDR zu
respektieren, hätte sie uns ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. Schließlich
gab es die ökonomische Seite: Die DDR-Währung war nicht konvertibel. Wir haben
bei jeder Reiselockerung große Devisenmengen einsetzen müssen, die hatten
wir nur begrenzt. Die Bundesbahn hat uns jeden Kilometer, den ein DDR-Bürger
auf ihrem Territorium gereist ist, in Rechnung gestellt, in Devisen. Was
heute so einfach scheint und jahrelang ein großer Wunsch war, hatte sehr
komplizierte Ost-West-Bedingungen zur Gründlage.
Warum hatten Sie Bonn nicht vor Schabowskis Pressekonferenz informiert, dass Sie die Grenze öffnen wollten?
Die Bundesrepublik war über unseren
Unterhändler Schalck-Golodkowski informiert, dass wir die Absicht dieser neuen
Reiseregelung hatten, allerdings ohne Datum. Wir
wollten nicht, dass die Information zuerst über die Westmedien kommt. In
meinem Prozess hat Egon Bahr dazu eine sehr interessante und wohl richtige
Pointe gebracht. Er sagte: Wenn Egon Krenz am 9. November Kohl angerufen und
ihm mitgeteilt hätte, was er zum 10. November vorhabe, dann säße er nicht auf
der Anklagebank, sondern wäre Träger des Großen Verdienstordens der Bundesrepublik
Deutschland. Darauf hatte ich mein Handeln aber nicht abgestellt.
Hatten Sie am Abend des 9. November das Gefühl, dass damit das Ende der
DDR eingeläutet war?
Meine Hauptsorge an dem Abend war:
Hoffentlich passiert nichts. Dabei habe ich gar nicht an das von anderen befürchtete
Schießen gedacht. Es gab meinen Befehl vom 3. November, dass der Einsatz der Schusswaffe
im Zusammenhang mit Demonstrationen grundsätzlich verboten ist. Natürlich, was
ist in dieser Situation sicher, wenn jemand provoziert wird? Nein, ich habe vor
allem Panik befürchtet. Panik in dieser emotionsgeladenen Situation, ein Toter
an diesem Abend hätte unsere Pläne einer veränderten DDR völlig ad absurdum geführt.
Diese Pläne hatten Sie unbeirrt, als Sie sahen, wie die Menschen freudestrahlend
durch die geöffnete Mauer zogen?
Sie betrachten die Geschichte von ihrem
Ende her, ich betrachte sie aus der Situation, wie sie damals war. Ich wollte
die DDR als souveränen Staat erhalten, verändert, aber auf sozialistischer
Grundlage, und hielt dies auch für möglich.
Werten Sie das heute als
naiv?
Gorbatschow hat mir am 1. November gesagt,
es gibt keine deutsche Einheit. Selbst Bush senior, der damalige US-Präsident,
hat mir in einem Telegramm geschrieben, dass die Öffnung der Grenze ein Beitrag
für gute Beziehungen zwischen den USA und der DDR war. Es gab noch keine
übereinstimmende Haltung, dass dies zur deutschen Einheit führen würde. Wieso
soll ich da anders gedacht haben?
Haben Sie in der Nacht vom 9. auf den 10. November schlafen können?
Kaum. Ich habe versucht, Gorbatschow
anzurufen. Er war ja der Oberste Kommandierende des Warschauer Vertrages.
Vergebens! Schließlich war es in Moskau schon nach Mitternacht. Wir haben dann eine
Operative Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates der DDR gebildet, um
auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Innerhalb kurzer Zeit wurden über
50 Grenzübergänge geöffnet.
Als Sie
SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender waren, zwischen Mitte Oktober
und Anfang Dezember 1989, haben Sie sich als Handelnder oder als Getriebener
gefühlt?
Ich war beides, ich habe versucht zu handeln,
aber die Ereignisse haben uns getrieben. Das galt wahrscheinlich für die
anderen, die in dieser Zeit eine Rolle spielten, ähnlich - auch für Gorbatschow
und Kohl.
Nach Ihrer Wahrnehmung: Was wollte Helmut Kohl in dieser Zeit?
Der Bundeskanzler hat mich am 11.
November angerufen und sich für die Öffnung der Grenze bedankt, er sprach nicht
vom Fall der Mauer. Das waren also nicht nur für mich Unterschiede, in der
Rückschau sieht das anders aus. Kohl hat weiter gesagt, er könne sich
vorstellen, dass die Dinge sich dramatisch entwickeln, er habe aber kein
Interesse daran, die DDR zu destabilisieren. Das klang beruhigend, aber blieb
bekanntlich nicht so. Kohl hat auf die nationalistische Karte gesetzt.
Und Ihr Eindruck von der sowjetischen Haltung?
Ich ging davon aus, dass die sowjetische
Führung zur DDR steht. Gorbatschow hat Kohl gewarnt, die Situation zu
radikalisieren. Aber hinter unserem Rücken haben seine Emissäre begonnen, in
Bonn über die deutsche Einheit zu sprechen, als gäbe es die DDR schon nicht mehr.
Der sowjetische Botschafter in Berlin, Kotschemassow, erhielt sehr
widersprüchliche Weisungen aus dem Kreml. Er rief mich am Morgen des 10.
November an, dass man in Moskau wegen der Öffnung der Mauer beunruhigt sei.
Dazu hätten wir kein Recht gehabt, da es hier nicht um die Grenze zur Bundesrepublik,
sondern um die nach Westberlin gehe. Das hat mich innerlich erregt und ich
habe mich gefragt, was das soll: Erst stimmen sie der geplanten Reiseverordnung
zu, dann ziehen sie sich zurück? Wenige Stunden später kam ein zweiter Anruf
von Kotschemassow: Er übermittelte mir die Glückwünsche von Gorbatschow für die
Öffnung der Berliner Mauer, dies sei ein mutiger Schritt gewesen. Abends dann
bat Kotschemassow mich zu einem Treffen, auf dem er mit diplomatischen
Formulierungen nachfragte, ob man die Öffnung nicht rückgängig machen könne. Offenkundig
gab es in Moskau hin und her wogende Ansichten und Auseinandersetzungen.
Ab wann dachten Sie: Die DDR zu erhalten, ist aussichtslos?
Den Punkt hatte ich während meiner Amtszeit
nicht. Ich habe mich bis zuletzt dagegen gewehrt, dass das Zentralkomitee
zurücktritt, wie es am 3. Dezember geschah. Mein Verständnis von Verantwortung war,
dass ich nicht das Recht hätte, die Sachen hinzuwerfen. Ich habe danach
gedacht: Gut, wenn es andere Leute gibt, die in der Lage sind, die DDR als
souveränen Staat zu erhalten, dann mögen sie jetzt handeln. Erst beim Auftritt
von Kohl am 19. Dezember in Dresden wurde mir klar, dass das offenbar sehr
schwierig ist.
Sehr schwierig, nicht verloren?
Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen,
dass die Sowjetunion bereit ist, die DDR aufzugeben, und war weiter überzeugt,
dass es richtig und möglich ist, die DDR zu verändern. Rückblickend muss ich
sagen: Auch die, die nach mir kamen, hatten keine brauchbare Konzeption dafür.
Wie groß war die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation in der Zeit
zwischen der ersten großen Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig und
der Grenzöffnung am 9. November?
Ich hielt sie für äußerst groß und bin
deswegen am 13. Oktober nach Leipzig gefahren, um mir die Situation vor Ort
anzusehen. Im Ergebnis haben der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates
Fritz Streletz und ich einen Befehl ausgearbeitet, dass der Gebrauch der
Schusswaffe gegen Demonstranten verboten ist. Den hat Erich Honecker unterzeichnet.
Ein weiterer Befehl wurde am 3. November, nachdem ich Vorsitzender des
Staatsrats geworden war, ausdrücklich für den Fall des Eindringens ins
Grenzgebiet erlassen. Es gab auch vorher keinen anders lautenden Befehl,
keinen »Schießbefehl«. Ich wollte dies aber für die veränderte Lage explizit sicherstellen.
Wenn wir rückblickend auf diese Zeit überhaupt etwas gekonnt haben, dann ist
es dies, dass kein Blut vergossen wurde.
Finden Sie, dass das historisch ausreichend anerkannt wurde?
Das interessiert mich nicht. Wichtig ist
allein, dass wir es geschafft haben, dass nicht ein Schuss gefallen ist. Das
ist für mich das Erbe der DDR. Würde es allgemein anerkannt werden, so
bedeutete dies doch, den Beitrag von Kohl und anderen für den friedlichen
Verlauf der Ereignisse zu relativieren.
Ehemalige Bundespräsidenten und -kanzler werden weiter mit ihrem Titel
angesprochen. Passiert es Ihnen noch, dass jemand »Herr Staatsratsvorsitzender«
sagt?
Ich kämpfe nicht darum. So vielen
DDR-Bürgern wurden Titel und Berufsbezeichnung aberkannt.
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Egon Krenz löste Erich Honecker am
18. Oktober 1989 als Generalsekretär der SED und eine Woche später als
Staatsratsvorsitzender der DDR ab.
Das Interview führten Gabriele Oertel und Jürgen Reents