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Auszüge einer Dokumentation aus „Junge Welt-online“ vom 10.11.2009

 

Ohne einen Schuss

»Die Öffnung der Staatsgrenze der DDR am 9. November 1989 – ein Ereignis von historischer Tragweite und widersprüchlichem politischen Charakter«

Von Egon Krenz

Schlussteil der Rede, die Egon Krenz, Nachfolger Erich Honeckers als Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR, am 24.10.2009 auf dem 24. Grenzertreffen in Petershagen bei Berlin gehalten hat.

 

Im Unterschied zu manchen sowjetischen Politikern hatten die sowjetischen Militärs ein aufrichtiges Verhältnis zur DDR. Die DDR war für sie auch ein Ergebnis ihres Sieges über den deutschen Faschismus, bei dem 27 Millionen Sowjetmenschen ihr Leben gelassen hatten. Sie hingen im besten Sinne des Wortes mit ihrem Herzblut an der DDR und waren bereit, alles für die Unterstützung der DDR zu tun.

Armeegeneral Snetkow versicherte mir beim Empfang in der sowjetischen Botschaft zum Jahrestag der Oktoberrevolution am 6. November, was mir wenige Tage zuvor schon der Oberkommandierende der Warschauer Vertragsstaaten und Erste Stellvertreter des Verteidigungsministers der UdSSR, Armeegeneral Pjotr Luschew, gesagt hatte, dass es einen Befehl Gorbatschows, die Sowjetarmee möge in ihren Kasernen bleiben, nicht gibt. Über einen solchen vermeintlichen Befehl wurde die DDR auch nie informiert. Er ist bis heute nirgendwo dokumentiert. Es gibt ihn lediglich in der Einbildung jener, die die Wahrheit über die DDR verdrehen.

Armeegeneral Snetkow sagte mir: Die Sowjetarmee wird alle Verpflichtungen erfüllen, die sich aus dem Freundschafts- und Beistandspakt zwischen beiden Ländern ergeben. Wenn die DDR-Führung dies wolle, genüge ein Anruf. Ich gehe deshalb hier noch einmal darauf ein, weil heutzutage immer wieder kolportiert wird, die DDR habe im Herbst 1989 nur deshalb keine Gewalt angewandt, weil die NVA angeblich wusste, sie werde keine sowjetische Unterstützung erhalten. Das ist nicht nur eine Lüge, sondern zugleich eine Unterstellung, die NVA hätte sonst wild um sich geschossen. In einem Buch von Altbundespräsident von Weizsäcker liest sich das so: »Trotz ausdrücklicher Anforderung durch die Sicherheitskräfte der DDR blieben sowjetische Streitkräfte auf Befehl aus Moskau in ihren Quartieren

Das ist unwahr! Es gibt eindeutige Befehle des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 13. Oktober und vom 3. November 1989, die die Anwendung der Schusswaffe verboten. Obwohl diese Befehle in den Archiven der Bundesrepublik lagern, werden sie in der zeitgeschichtlichen Debatte leider nicht beachtet. Nachdem Bundespräsident Köhler in seiner Leipziger Rede am 9. Oktober 2009 Gerüchte in den Rang von Tatsachen erhoben hat, werde ich den Verdacht nicht los, der DDR-Führung soll unbedingt der Wille zur Gewaltanwendung gegen die eigene Bevölkerung unter Hinnahme eines möglichen Blutbades unterstellt werden.

Angenommen, die DDR-Führung hätte wirklich Gewalt anwenden wollen, dann hätte sie dazu keine sowjetischen Streitkräfte anfordern müssen. Die eigenen Sicherheitskräfte hätten ausgereicht. Mir ist auch nicht bekannt, dass Personen mit Befehlsgewalt in den Sicherheitskräften der DDR die Hilfe sowjetischer Streitkräfte angefordert hätten. Dokumentiert hingegen ist, dass wir die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen gebeten hatten, sich nicht zu ihren geplanten Herbstmanövern aus den Kasernen zu bewegen, weil dies unter den damals gegebenen Umständen ein falsches Signal hätte sein können. Die sowjetischen Streitkräfte haben diese Bitte der DDR erfüllt.

Nun wird das Ganze einfach umgedreht. Die politische Elite der Bundesrepublik möchte der DDR allzugern die Absicht zu einem Blutbad unterstellen. Niederträchtig und schmutzig nenne ich das.

Meine Erinnerung stimmt mit dem überein, was UdSSR-Botschafter Kotschemassow 1997 in einem Interview für den Spiegel öffentlich machte. Auf die Frage, »ob Moskau niemals die Anwendung von Gewalt erwogen habe«, antwortete er: »In der dramatischen Phase haben unsere Generäle im Oktober und November 1989 einen militärischen Einsatz erwogen und angeboten

Die sowjetischen Truppen in der DDR waren dem Freundschafts- und Beistandspakt mit der DDR verpflichtet. Aus eigenem Wissen kann ich sagen: Sie wären nicht in ihren Kasernen geblieben, wenn die DDR sie darum gebeten hätte. Glücklicherweise hat dies niemand getan. Das vorläufige Ende des Sozialismus auf deutschem Boden ist nicht mit Blut befleckt. Und dazu beigetragen haben NVA und Sowjetarmee gemeinsam.

 

Den 9. November habe ich wie folgt in Erinnerung: Gegen zwölf Uhr führte ich eine kurze Besprechung mit dem Politbüro über den Entwurf der neuen Reiseverordnung durch. Das Politbüro stimmte dem Entwurf zu. Gegen 15.30 Uhr teilte mir Ministerpräsident Willi Stoph mit, dass die Regierung die Reiseverordnung im Umlauf bestätigt habe. Da ich um die Brisanz der Angelegenheit wusste, habe ich die Verordnung gegen 16 Uhr auf der laufenden Tagung des ZK wörtlich verlesen. Nicht, wie nachträglich behauptet wird, lustlos, sondern in der mir eigenen Rhetorik. Die Reiseverordnung besagte, dass alle Bürger ab dem 10. November 1989 frei reisen können. Kurz nach 17 Uhr verabschiedete sich Schabowski von mir zur täglichen Pressekonferenz.

Ich übergab ihm mein Exemplar der Reiseverordnung (keinen Zettel, wie jetzt behauptet wird) mit dem ausdrücklichen Hinweis: »Das ist die Weltnachricht«. Schabowski vergaß aber, die Verordnung zu erwähnen. Erst 18.53 Uhr stellte ihm ein Reporter eine Frage zum Reisegesetzentwurf.

Statt korrekt zu antworten, wie beschlossen war, die Öffnung der Grenzübergänge erfolge am 10. November, verkündete er zerstreut und unkonzentriert: »Ab sofort, unverzüglich«. Nochmals: Vorgelesen hat er nicht von einem Geheimdienstzettel, wie gelegentlich behauptet wird, sondern aus der Reiseverordnung, die ich ihm übergeben hatte. Daran befand sich eine Pressemitteilung, die am 10. November in den Printmedien veröffentlicht werden sollte. Als Vorsitzender der Einsatzleitung von Berlin musste Schabowski wissen, dass die Grenze nicht auf seinen Zuruf von einer Pressekonferenz aus geöffnet werden konnte. Er brachte uns mit seiner Schussligkeit an den Rand einer Katastrophe, in die selbst die vier Großmächte hätten verwickelt werden können. Nachdem die Pressekonferenz vorbei war, packte er seine Sachen und fuhr nach Hause und machte Feierabend, während die ZK-Tagung bis zirka 20.45 Uhr weiterging.

Niemand von uns wusste bis dahin, was Schabowski auf der Pressekonferenz gesagt hatte. Erst gegen 21 Uhr erfuhr ich von Erich Mielke, dass sich viele Menschen in Richtung Grenze bewegten. Nun versuchte ich, Verteidigungsminister Keßler zu erreichen. Doch er war noch auf dem Wege von der ZK-Tagung in Berlin-Mitte nach Strausberg, wie auch der Sekretär des NVR (Nationalen Verteidigungsrates, d. Red.), Fritz Streletz, und der Chef der Grenztruppen, Klaus-Dieter Baumgarten.

Inzwischen rief Mielke erneut an und sagte, er brauche dringend eine Entscheidung, wie verfahren werden soll. Ich sagte ihm: Wir werden doch wegen einiger Stunden bis zur Wirksamkeit des Reisebeschlusses am 10.November keine Konfrontation mit der Berliner Bevölkerung riskieren. Er und die in meinem Arbeitszimmer befindlichen Genossen Siegfried Lorenz und Wolfgang Herger stimmten mir zu. Mein Spielraum war äußerst eng. Ich hatte in Sekundenschnelle zu entscheiden: Entweder setzen wir alle bewaffnete Macht zum Schutze der Grenze ein und riskieren dabei unter Umständen ein Blutbad oder wir lassen den Dingen freien Lauf. Meine Nervosität konnte ich in diesem Moment jedenfalls nur schwer verbergen.

Mir war klar, dass jene Frauen und Männer, die als Angehörige der Grenztruppen, Mitarbeiter der Paßkontrolleinheiten und der Zollverwaltung der DDR in diesen Stunden an den Grenzübergängen Dienst taten, vor eine außergewöhnliche und unvorbereitete Situation gestellt waren. Im Vertrauen auf die Mitteilung in den Medien – und zwar sowohl der DDR als auch der BRD – waren viele Bürger der DDR inzwischen auf dem Weg zur Grenze, als die notwendigen Befehle und Anordnungen noch nicht gegeben waren.

Was, so meine Sorge, wenn auch nur ein einzelner dieser Situation nicht gewachsen gewesen wäre? Was, wenn Überreaktion oder Panik entstünden? Was, wenn gar ein Schuss fiele? Zum Glück traf dies alles nicht ein. Heute schreiben Medien leichtsinnig, Schabowskis Unkonzentriertheit sei »das schönste Missverständnis der Weltgeschichte«. Andere meinen, es sei ein Wunder, dass alles friedlich verlaufen sei. Ein Teil jener, die dieses Wunder vollbracht haben, sitzt hier in diesem Saal vor mir. Ihr habt dazu beigetragen, dass aus einer Schussligkeit von Schabowski keine Katastrophe wurde. Wie leicht hätte aus dem »schönsten Missverständnis der Geschichte« ein schreckliches Blutvergießen werden können!

Meine Hochachtung vor eurer weltpolitischen Leistung, liebe Freunde! Dankbar bin ich nach wie vor den verantwortlichen Kommandeuren der Grenztruppen vor Ort. Es wird heute oft von Gewissensentscheidungen gesprochen. Das Verhalten der Grenzer am 9. November 1989 war so eine. Die Grenzer waren im humanistischen Sinne ausgebildet und erzogen und bewiesen dies in ihren Handlungen. Das noble Handeln der Grenzsoldaten an diesem und den folgenden Tagen führt das bis heute in den bundesdeutschen Medien gezeichnete Bild von ihnen als schießwütige Mordgesellen ohne Herz und Seele ad absurdum.

Und auch das gehört zur Wahrheit dieses Tages: Die Angehörigen der Grenztruppen handelten an den Grenzübergangsstellen in engem Zusammenwirken mit den Paßkontrolleinheiten (PKE). In ihnen dienten Männer und Frauen des Ministeriums für Staatssicherheit. Es ist mir kein Fall bekannt, daß auch nur einer von ihnen die Grenzsoldaten zu anderem als dem bekannten Handeln angehalten hätte. Aber sie alle werden ohne Ansehen der Person bis heute gesellschaftlich geächtet und sozial bestraft.

Eine falsche Entscheidung hätte Blutvergießen bedeuten können. Das hat auch Gorbatschow so beurteilt. Er schrieb, die DDR-Führung habe dazu beigetragen, ein »mögliches Auslösen militärischer Aktionen mit unübersehbaren Folgen auf deutschem Territorium zu verhindern«. Der 9. November 1989 wurde eher zufällig ein Datum deutscher Zeitgeschichte. Die beschlossene Grenzöffnung, für die am 10. November alle notwendigen Befehle vorgelegen hätten, lag in der Logik der Politik der Erneuerung der DDR.

Aber auch das will ich sagen: Es gab an diesem Abend keinen Sturm der Massen zur Demontage der Grenzanlagen! Es war nicht – wie heute behauptet wird – der »Tag des Mauerfalls«, sondern es war der Tag der Grenzöffnung. Die Bürger kamen aufgrund einer Information eines DDR-Spitzenfunktionärs – wenn auch einer falschen – aber wegen dieser Information freudig erregt, aber diszipliniert an die Grenze. Der organisierte Grenzdurchbruch blieb glücklicherweise aus. Das Wesen des 9. November ist: Die DDR öffnete ihre Grenzen. Am treffendsten hatte dies der Regierende Bürgermeister von Berlin-West, Walter Momper, formuliert: Dies sei kein Tag der Wiedervereinigung, sondern ein Tag des Wiedersehens, hielt er Kohl entgegen.

 

Der 10. November wurde noch einmal dramatisch: Nachdem wir um sieben Uhr gerade eine operative Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates der DDR gebildet hatten, rief mich der sowjetische Botschafter an. In Moskau, sagte er, sei man besorgt darüber, was sich in der Nacht in Berlin abgespielt habe.

Die DDR habe kein Recht zur Öffnung der Staatsgrenze gehabt. Berlin stehe noch unter Vier-Mächte-Verantwortung. Ich antwortete, dass die Alternative militärische Gewalt gewesen wäre. Kotschemassow bat, Gorbatschow detailliert zu informieren.

Fritz Streletz entwarf daraufhin ein Staatstelegramm an Gorbatschow, das ich dem sowjetischen Staatsoberhaupt übermittelte. Darin waren die Einzelheiten der Entwicklung vom 9. bis 10. November dargestellt. Nach zirka zwei Stunden kam ein zweiter Anruf vom Botschafter: Gorbatschow gratuliere zur Grenzöffnung.

Zwei Anrufe mit so unterschiedlicher Bewertung, das hat mich dann doch fragen lassen: Wer hat in Moskau eigentlich noch das Sagen? Gorbatschow informierte mich über seine persönliche Botschaft an Kohl. Darin warnte er den Bundeskanzler vor Erklärungen, die Existenz von zwei deutschen Staaten in Frage stellen. Der Kernsatz lautete: Keine »Komplizierung und Destabilisierung der Situation« zulassen! Es könnte, so Gorbatschow, »eine chaotische Situation mit unübersehbaren Folgen entstehen«. Wie ernst die Situation war, zeigt sich auch daran, dass Gorbatschow ähnliche Botschaften an George Bush, Francois Mitterrand und Margaret Thatcher sandte.

Bereits einen Tag nach der Grenzöffnung gab es schon wieder Gerüchte: DDR-Militärs – hieß es – würden die Grenze wieder schließen wollen. Tatsächlich hat es eine solche Absicht nicht gegeben. Um die Grenztruppen unterstützen zu können, wurde zwar für eine Division und ein Luftsturmregiment »Erhöhte Gefechtsbereitschaft« befohlen. Diese wurde jedoch aufgehoben, nachdem Grenztruppen allein in der Lage waren, neue Grenzübergänge zu öffnen und zugleich Grenzdienst zu gewährleisten. Schon eigenartig: Da wird eine Grenze geöffnet – und die DDR soll nicht einmal Vorkehrungen für eventuelle Provokationen treffen können.

11. November: Um 10.13 Uhr führten Kohl und ich ein Telefongespräch. Er sprach nicht vom »Fall der Mauer«, sondern korrekt von der Grenzöffnung. Er begrüßte »diese sehr wichtige Entscheidung der Öffnung«2. Er betonte, daß »jede Form der Radikalisierung gefährlich ist… Wir werden uns nicht zu unterhalten brauchen, was für Gefahren das sein könnten, das kann sich jeder leicht ausrechnen… Das ist ja eine Situa­tion, die leicht dramatisch werden könnte

Kohl schlug vor, dass wir im telefonischen Kontakt bleiben. Sein Wunsch sei, sich mit mir so schnell wie möglich zu treffen. Das Brandenburger Tor blieb noch geschlossen. Kohl wollte es selbst öffnen, was kurz vor Weihnachten 1989 ja auch geschah.

 

Bei vielen Menschen gab es 1989 die Illusion, aus beiden deutschen Staaten könnte ein neuer Staat entstehen. Der Runde Tisch hatte dafür ja eine Verfassung ausgearbeitet. Stattdessen wurde den Ostdeutschen das System der alten Bundesrepublik übergestülpt – ohne sie zu fragen. Viele Menschen hofften, daß es nach den Jahren des Kalten Krieges möglich sein würde, den Krieg aus dem Leben der Menschen zu verbannen. 20 Jahre nach der Grenz­öffnung erleben wir hingegen, dass Deutschland ökonomisch, sozial, juristisch und mental immer noch dort gespalten ist, wo einst die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten verlief.

Der Bundespräsident mahnt Jugendliche, man dürfe die DDR nicht durch die »rosarote Brille« betrachten4, man dürfe sie nicht verklären. Recht hat er. Doch: Man darf sie auch nicht – wie er – durch eine geschwärzte Brille sehen. Und wieso darf man nur die DDR nicht verklären? Gilt das nicht zugleich auch für die alte BRD?

Vor ein paar Wochen las ich, dass ein westdeutscher Sozialforscher ernsthaft folgende Sätze als Wissenschaft ausgegeben hat: »Menschen sind in sozialistischen Ländern aber nicht nur weniger intelligent und wissen weniger, sie sind auch durch den geringen Wohlstand deutlich kleiner. Auf gesellschaftlicher Ebene wird damit deutlich: Sozialismus führt nicht nur zu intellektueller Selbstverzwergung, sondern auch zu physischem Kleinwuchs

Das grenzt ja schon an Rassismus, zeigt mir aber auch, dass es in Sachen DDR ein Kartell von systemtreuer Wissenschaft, Juristerei, Medien und Politik gibt. Wir sind Zeuge einer Verleumdungskampagne, wie sie schlimmer kaum noch sein kann. Ich bin darüber betroffen, jedoch nicht erschrocken. Geschichte wird immer durch die Brille eigener Interessen gesehen. Wir haben verloren und werden dementsprechend behandelt. Napoleon hatte wohl recht, als er über die bürgerliche Geschichtsschreibung meinte, sie sei immer die Summe der Lügen, auf die man sich nach 30 Jahren geeinigt habe. In Bezug auf die DDR waren diese Lügen allerdings schon produziert, bevor unser Staat überhaupt gegründet war.

Der bisherige Höhepunkt der Verleumdung von Staats wegen war die Leipziger Rede von Bundespräsident Köhler am 9. Oktober. Für jene, die sich nicht mehr zumuten wollen, diesbezügliche Ansprachen des Bundespräsidenten überhaupt noch zu lesen, hier ein kleiner Auszug: »Als Pfarrer Christian Führer am 9. Oktober 1989 nach dem allwöchentlichen Montagsgebet die Türen der Nikolaikirche öffnete, da war der Vorplatz schwarz vor Menschen … Da waren 70000. Sie mussten mit dem Schlimmsten rechnen, denn es gab klare Drohungen. Zeugenaussagen und Dokumente belegen: In den Betrieben wurden die Belegschaften angewiesen, die Innenstadt zu meiden, denn da werde Blut fließen. In den Schulen wurde den Kindern gesagt: Geht nicht in die Stadt heute, da könnte ›etwas Schlimmes‹ passieren. Das Wort von der ›chinesischen Lösung‹ machte die Runde – vom Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt

Hätte das beispielsweise Frau Birthler gesagt, ich hätte keine Notiz davon genommen. Aber der Bundespräsident, der den Anspruch hat, Präsident aller Deutschen zu sein? Er sollte besser prüfen, bevor er urteilt. Ich jedenfalls kann auf meinen Eid nehmen, dass die DDR-Führung weder Panzer vor die Stadt Leipzig beordert noch Befehle zum Schießen gegeben hat, wohl aber Befehle zum Nichtschießen. Wie es wirklich war, habe ich in meinem Buch »Herbst ’89« (S. 129ff.) dokumentiert.

Interessant ist für mich inzwischen eine ganz andere Frage: Wie würde sich wohl die Bundesrepublik verhalten, wenn es um ihr Sein oder Nichtsein ginge? Nach dem Vertrag von Lissabon darf bei Aufstand und Aufruhr ohne Gesetz und ohne richterlichen Beschluss getötet werden. Das ist keine Erfindung von mir. Diese Erkenntnis stammt von einem Professor für Öffentliches Recht aus Westdeutschland. Er hat in einer seiner Verfassungsbeschwerden zum Lissabon-Vertrag darauf aufmerksam gemacht. Im übrigen hat mir der G-8-Gipfel in Heiligendamm gezeigt, mit welcher Brutalität die Sicherheitskräfte gegen Demonstranten vorgegangen sind, die verdächtigt wurden, das System in Frage stellen zu wollen.

 

Die Frage, woran die DDR gescheitert ist, wird wohl jeden von uns bis zu seinem Lebensende beschäftigen. Ich gestehe, dass ich mich mit dieser Frage seit fast 20 Jahren auseinandersetze und immer noch ein Suchender bin. Es gab 1989 etwas mehr als 16 Millionen DDR-Bürger. Heute gibt es wohl genauso viele Meinungen über die DDR.

Wer immer noch glaubt, wir hätten nur Gorbatschow folgen müssen, der übersieht, dass Gorbatschow mit seiner Politik im eigenen Lande gescheitert ist und dass sie zum Untergang der UdSSR führte, was Expräsident Putin als »globalpolitische Katastrophe am Ende des 20. Jahrhunderts« bezeichnet hat.

Ich sehe ein ganzes Knäuel von Ursachen: innere und äußere, subjektive und objektive, politische und ökonomische, selbstverschuldete und ferngesteuerte. Das Entscheidende ist für mich allerdings: Die DDR ist als Teil eines Ganzen untergegangen, eines Sozialismusmodells, das vom Stillen Ozean bis an die Elbe reichte. Und dies wiederum hing mit dem geostrategischen Kräfteverhältnis zusammen. Auch damit, dass unsere Gemeinschaft nicht jenes Niveau der Arbeitsproduktivität erreichte, das nach Lenin das Entscheidende für den Sieg über den Kapitalismus ist. Die Gemeinschaft war ökonomisch zu schwach, um das von den USA aufgezwungene Wettrüsten zu verkraften.

In dieses Historische eingebettet sehe ich unsere eigenen Fehler, die ich keineswegs verharmlose.

Jemand hat kürzlich gesagt, niemand könne sich um »die Erkenntnis herummogeln, dass die DDR gescheitert ist, so wie sie war, zu Recht«. Das ist wohl mehr ein moralisches Urteil. Nach meiner Meinung ist das letzte Wort über die DDR noch lange nicht gesprochen. Das Urteil über sie wird letztlich die Geschichte fällen. Ich glaube daran, dass irgendwann die Enkel oder Urenkel Auskunft verlangen, warum man mit dem ersten sozialistischen Versuch in Deutschland so rigoros negativ umgegangen ist. Und auch: Warum nicht alle Sozialisten zuallererst fragten: Was ist denn bewahrenswert aus den Erfahrungen der DDR? Ich glaube, wer ernsthaft über Sozialismus nachdenkt, kommt an den Erfahrungen der DDR nicht vorbei – weder an den guten noch an den schlechten.

Ich möchte Nachdenklichkeit über Deutschland einfordern. Wo heute über die Nachkriegsgeschichte gesprochen wird, ist das Denken über Deutschland nur auf die DDR reduziert.

Nachdenken darüber, wie die DDR war, ohne gleichzeitig in Erwägung zu ziehen, wie Deutschland heute ohne sie ist, bleibt geteilte Nachdenklichkeit. Was heißt denn »mit Recht« untergegangen?

Deutschland und die Welt sind doch ohne die DDR weder gerechter noch sicherer geworden. Solange die DDR existierte, wäre es undenkbar gewesen, dass die Bundesrepublik Kriege wie die in Jugoslawien oder Afghanistan geführt hätte. Man sollte die DDR auch nicht auf ihr Scheitern reduzieren.

Die DDR war trotz ihrer Defizite etwas völlig Neues in der deutschen Geschichte. Sie durchbrach den ewigen Kreislauf von Ausbeutung, Krise und Krieg. Sie war keine Fehlgeburt, sondern eine logische Antwort auf die existentiellen Katastrophen, die der deutsche Imperialismus ausgelöst hatte. Er war schuld am Tod von über 80 Millionen Menschen in zwei Weltkriegen. Die Entstehung der DDR war ein Aufbäumen von Antifaschisten, nicht nur aus der Arbeiterbewegung, sondern auch aus dem Bürgertum, gegen die Verursacher und die Ursachen von Krieg und Faschismus. Die DDR nahm ihr Gründungsversprechen ernst: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.

Die Tatsache, dass ich hier und heute vor Persönlichkeiten spreche, die am 9. November alles getan haben, damit Deutschland am Ende des vergangenen Jahrhunderts keinen neuen Krieg erlebt hat, nehme ich zum Anlass, Euch zu informieren, dass ich mich vor knapp zwei Wochen (am 13.10.2009, d. Red.) mit einem Brief an den Bundespräsidenten gewandt habe. Ich habe zwar keine Illusionen über seine Wirkung: Es ist mir dennoch immer wieder Anliegen, daran zu erinnern, dass es höchste Zeit für die geschichtliche Wahrheit ist und es mehr als geboten erscheint, Schluss zu machen mit der Benachteiligung von DDR-Bürgern. Der Brief hat folgenden Wortlaut:

»Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Ihre Leipziger Rede vom 9. Oktober 2009 ist mir Anlass zu der folgenden Überlegung:

Abraham Lincoln hatte nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg am 4. März 1865 gesagt: ›Mit Groll gegen niemanden, mit Nächstenliebe gegen alle, mit Bestimmtheit im Recht … lasst uns bestrebt sein, die Arbeit, die wir begonnen haben, zu beenden, die Wunden unseres Landes zu versorgen ...‹

Er wolle alles tun, hatte er erklärt, ›was einen gerechten und dauerhaften Frieden zwischen uns selbst und anderen Völkern herbeiführen kann‹.

Auch wir in Deutschland haben einen Bürgerkrieg erlebt. Glücklicherweise keinen heißen, aber einen kalten. Mehr als 40 Jahre, immer am Rande eines möglichen Atomkrieges. Obwohl beide deutsche Staaten daran beteiligt waren, richtet sich seit 1990 der Groll einseitig gegen die DDR. Viele ihrer Bürger werden nach wie vor politisch ausgegrenzt, sozial benachteiligt und juristisch ungleich behandelt. So wird nicht zusammengeführt, was nach Willy Brandt zusammengehört.

Nach meiner Übersicht haben im Herbst 1989 knapp eine Million Menschen demonstriert. Abgesehen davon, dass die Mehrheit von ihnen nicht die Abschaffung der DDR gefordert hatte, geht allein aus der Zahl hervor, dass mehr als 15 Millionen DDR-Bürger nicht demonstriert haben. So differenziert wie damals ist auch heute die Stimmung unter vielen Ostdeutschen, was aktuelle Umfragen belegen.

Wäre es nicht an der Zeit, den 20. Jahrestag der Grenzöffnung durch die DDR am 9. November 1989 zum Anlass zu nehmen, endlich zu einer sachlichen, wahrheitsgetreuen und wissenschaftlich fundierten Darstellung der Geschichte beider deutscher Staaten zu kommen?

Die Reaktion vieler Menschen auf Ihre Leipziger Rede zeigt mir, dass die bisherige Art des Umgangs mit der DDR gescheitert ist. Eine Politik im Geiste von Abraham Lincoln ist möglich. Ich setze in diesem Zusammenhang auf Ihre staatsmännische Klugheit.

Hochachtungsvoll

Egon Krenz«

Liebe Freunde,

Angela Merkel nannte Linksdenkende »Spitz- oder Spitzelbuben«, die Präsidentin des Thüringer Landtages brachte jene, die nicht so wie sie über die DDR denken, in die Nähe von Demenz. SPD-Müntefering war großzügiger. Er meinte, nicht alle in der DDR hätten »Dreck am Stecken« gehabt. Was ist das nur für eine Gesprächskultur, wo man doch vorgibt, die Friedfertigkeit einer Revolution feiern zu wollen? Wo bleibt denn der Respekt vor Andersdenkenden, den man einst von der DDR zu Recht eingefordert hat?

Man wird diese Zusammenkunft vermutlich eine Versammlung der Ewiggestrigen nennen, der Betonköpfe, die in den zurückliegenden 20 Jahren angeblich nichts dazugelernt hätten. Lieber Betonkopf als Weichei! Was man auch sagt oder schreibt: Diese Herrschaften irren. Wir sind keine Nostalgiker. Wir wollen eine Anerkennung der Lebensleistungen von Millionen DDR-Bürgern. Wir haben gelernt, wo unsere Schwächen und wo unsere Stärken lagen. Und vor allem haben wir gelernt, dass wir uns nicht mehr alles gefallen lassen: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.

Zulernen müssen nun die Herrschenden, die heute wie vor 20 Jahren an ihre Unfehlbarkeit glauben, jene, die statt zu versöhnen immer noch spalten. Ich vermisse in diesem Jubiläumsjahr den Rechenschaftsbericht jener bundesdeutschen Politiker, die Ostdeutschland deindustrialisiert, Millionen DDR-Bürger in die Arbeitslosigkeit geschickt und die DDR-Intelligenz faktisch enthauptet haben. Sie sind schuld daran, dass Deutschland wirtschaftlich und sozial weiterhin dort geteilt ist, wo einst die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten verlief. Statt permanent DDR-Bürger aufzufordern, Rechenschaft über ihr vermeintlich »falsches Leben in der Diktatur« zu geben, wird es höchste Zeit, von den 1990 Verantwortlichen zu erfahren, wie sie über ihre Irrtümer und Fehler denken, die viele Ostdeutsche zu Bürgern zweiter Klasse gemacht haben. Und: Wie sie diese korrigieren wollen.

Als Heiner Müller mich kurz vor seinem Tod besuchte, meinte er in Bezug auf den Umgang mit der DDR: »Ein Kadaver kann dem Obduk­tionsbefund nicht widersprechen. Der historische Blick auf die DDR ist von einer moralischen Sichtblende verstellt, die gebraucht wird, um Lücken der eigenen ›moralischen Totalität‹ zu schließen

Versprechen wir uns, liebe Freunde, gegenseitig: Solange wir leben, werden wir dem vom Deutschen Bundestag vorgegebenen Obduk­tionsbefund über die DDR widersprechen. Niemand, der in der DDR ehrlich gearbeitet hat, braucht sich seines Lebens zu schämen.

 

 

Nachbemerkung: Egon Krenz führt Schabowskis Verhalten 1989 in der Pressekonferenz auf „Schusseligkeit“ zurück. Dem muss entschieden widersprochen werden! Herr Schabowski, ein ausgewiesener Dogmatiker und Hartliner der DDR, der nach der Pressekonferenz einfach Feierabend machte und nicht erreichbar war, hat damals ganz offenkundig versucht, in Deutschland ein Chaos auszulösen. Als führender Politiker hat er sehr wohl gewusst, dass man ein über Jahrzehnte festgezurrtes Grenzregime nicht per Hinweis auf einer Pressekonferenz aufheben kann. Das heißt, er spielte bewusst mit einem Feuer, das in Europa einen Großbrand hätte auslösen können, hätte es nicht die besonnenen Grenzer gegeben.