Präambel

zur Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS in Berlin

 

 

I.

 

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss die Berliner Politik die großen Zukunftschancen ergreifen, die aus der 1990 wieder gewonnenen Einheit der Stadt in Freiheit und ihrer neuen Rolle als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland erwachsen sind. Unabdingbare Voraussetzungen dafür sind die Zusammenführung aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte unserer Stadt, die Nutzung und Akzeptanz des Erfahrungsschatzes der Menschen, das Aufgreifen ihres vielfältigen ökonomischen, kulturellen und sozialen Engagements und ihrer Kreativität, die Berlin wie kaum eine andere deutsche Stadt auszeichnen. Die Koalition lädt alle ein, ihren Beitrag zu leisten - im Wissen um die Geschichte und in Verantwortung für die Zukunft Berlins.

Die Koalition unterstreicht ihre Absicht, Politik für das ganze Berlin zu gestalten. Sie will die unterschiedlichen Biografien der Berlinerinnen und Berliner in der über Jahrzehnte geteilten Stadt und die Ideen und Anschauungen derjenigen, die erst seit dem Fall der Mauer in Berlin wohnen und arbeiten, zusammenführen und fruchtbar machen. Die Metropole Berlin bleibt in jeder Beziehung eine Werkstatt der Einheit und erfüllt damit eine Aufgabe für ganz Deutschland. SPD und PDS sehen sich in der Verantwortung, nach der Herstellung der staatlichen Einheit die innere Einheit Berlins weiter zu gestalten.


 

II.

 

Um Berlin auf Dauer attraktiv zu machen, sieht die Koalition in den kommenden Jahren ihre herausragende Aufgabe darin, zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und Investitionen nach Berlin zu holen. Sie geben der Stadt ein stabiles ökonomisches Fundament und tragen gleichzeitig zur Konsolidierung des Haushalts bei. Die Koalition wird ihre Anstrengungen vor allem auf dieses Ziel konzentrieren.

Die Koalition setzt dabei auf die vorhandenen Kompetenzen Berlins: Auf die reiche Wissenschafts- und Forschungslandschaft, die hochentwickelte Kunst und Kultur, auf die Qualifikation und Kreativität der Menschen und auf die Chancen Berlins als Ort des internationalen geistigen, kulturellen, politischen und ökonomischen Austausches und der Kommunikation zwischen Ost und West in Deutschland und Europa. Um wirtschaftliche Aktivitäten zu fördern, wird die Koalition bürokratische Hemmnisse für Ansiedlungen beseitigen und die vielfältigen Angebote der Stadt interessierten Investoren öffnen.

Die Koalition stellt sich der Aufgabe, trotz der dramatischen finanziellen Lage die notwendigen Ausgaben aufzubringen, um Bildung und Wissen für die Zukunft Berlins und der Berlinerinnen und Berliner zu sichern. Das größte Potenzial der Hauptstadt sind ihre Menschen. Eine qualifizierte Schul-, Aus- und Fortbildung sowie eine innovative Wissenschaft und Forschung sind die Voraussetzungen für individuellen Wohlstand und die Attraktivität des Standortes.

Berlin ist eine weltoffene Stadt, eine kreative Stadt, eine Stadt der guten Nachbarschaft. Berlin ist Gastgeberin für Menschen aus vielen Ländern, für Repräsentanten aus Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Die Koalition will diese Rolle Berlins festigen und ausbauen. Berlin soll eine Stadt sein, die Menschen einlädt, nach Berlin zu kommen, sich in dieser Stadt zu engagieren und die Potenziale Berlins zu nutzen. Berlin ist und bleibt eine Stadt für Einwanderinnen und Einwanderer.

 

III.

 

Eine Politik für die Einheit Berlins kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Geschichte der Stadt im Alltagsleben der Menschen wach hält und sich ihrer historischen Verantwortung bewusst bleibt.

Mit Berlin verbinden sich einerseits große historische Leistungen für den menschlichen Fortschritt in Wissenschaft und Technologie, Kunst und Kultur, andererseits aber auch Menschheitsverbrechen ungeheuerlichen Ausmaßes. Von der deutschen Hauptstadt gingen zwei Weltkriege aus, die unermessliches Leid über viele europäische Völker brachten. In Berlin wurde in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur der Völkermord an den europäischen Juden sowie an Roma und Sinti geplant und organisiert. Die Tötungsmaschinerie richtete sich gegen weitere zahlreiche in- und ausländische Bevölkerungsgruppen. In Berlin wurden Tausende Gegner des NS-Regimes gefoltert und ermordet.

Die Koalition weiß sich den Lehren aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur verpflichtet. Sie wird sich jedem Vorstoß von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Terrorismus entschlossen und aktiv entgegenstellen. Sie wird das Andenken der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur stets in Ehren halten.

 

IV.

 

Zwölf Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit bilden SPD und PDS in Berlin eine Koalition, wissend um die zahlreichen Belastungen und Schicksale aus der Zeit der Teilung der Stadt, deren Gründe und Folgen jede Politik für Berlin zu berücksichtigen hat. Vielen Menschen in Ost und West ist die leidvolle Teilung bis heute in schrecklicher Erinnerung.
Die 1961 von der DDR und der Sowjetunion errichtete Mauer vollendete und zementierte die Teilung und die Einordnung der Stadthälften in politisch gegensätzliche Systeme. Die Berliner Mauer wurde aber nicht nur weltweit zum Symbol der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges, sondern vor allem zu einem Symbol für Totalitarismus und Menschenverachtung. Die Schüsse an der Berliner Mauer haben schweres Leid und Tod über viele Menschen gebracht. Sie waren Ausdruck eines Regimes, das zur eigenen Machtsicherung sogar das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit missachtete. Die Mauer durch Berlin, das unmenschliche Grenzregime mitten in Deutschland haben Familien und Freunde auseinander gerissen. Wenn auch der Kalte Krieg von beiden Seiten geführt wurde, die Verantwortung für dieses Leid lag ausschließlich bei den Machthabern in Ost-Berlin und Moskau.

Wenn SPD und PDS jetzt eine Koalition eingehen, so sind sie sich der Verantwortung bewusst, die mit diesem Schritt verbunden ist. Die Erfahrung des Sieges des Faschismus über die gespaltene Arbeiterbewegung führte in Teilen der Mitgliedschaft von SPD und KPD nach 1945 zum Wunsch nach Vereinigung. Dieser Wunsch wurde missbraucht zu einer Zwangsvereinigung, ohne freie Entscheidung insbesondere der Mitglieder der SPD, die sich im Westteil der Stadt in einer Urabstimmung gegen die Vereinigung aussprachen und im Ostteil an der freien Abstimmung gehindert wurden. Von vornherein beabsichtigte die KPD-Führung, nach der Vereinigung alles sozialdemokratische Gedankengut aus der SED zu verbannen. Für die Verfolgung von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und anderen Teilen der demokratischen Opposition, für deren Inhaftierung unter menschenunwürdigen Bedingungen bis hin zum Tod und für die Hinrichtungen Andersdenkender trägt die SED eine bleibende Schuld. Zusammen mit den damaligen Entscheidungsträgern in der Sowjetunion ist sie verantwortlich für die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953, den Mauerbau und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, mithin für das Fehlen grundlegender demokratischer und Freiheitsrechte in der DDR.

Vor diesem Hintergrund sieht die Koalition ein großes historisches Verdienst darin, dass sich die Ostdeutschen aus dieser Unterdrückung selbst befreit haben.

Die Distanzierung der PDS von den Unrechtstaten der SED und dem Mauerbau waren wichtige Schritte zur Aufarbeitung der unheilvollen Geschichte der SED. Es waren wichtige Schritte im Prozess der notwendigen Erneuerung der PDS. SPD und PDS bekennen sich im Wissen um das Trennende aus der Geschichte dazu, dass die Vergangenheit nicht auf Dauer die Zukunft beherrschen darf. Dies kann aber nur gelingen, wenn nicht verdrängt und vertuscht wird. Der offene Umgang mit den Verbrechen an der Demokratie und den individuellen Rechten, die Übernahme von Verantwortung sowie der Respekt vor den Opfern sowie die Bewahrung ihres Andenkens sind Voraussetzungen für Versöhnung und innere Einheit. Sie sind auch Voraussetzungen dieser Koalition.


 

V.

 

SPD und PDS anerkennen die großen Leistungen, die im Einigungsprozess bisher, insbesondere von den Menschen aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt vollbracht wurden. Voraussetzungen für die Vollendung der inneren Einheit ist die Herstellung von Chancengleichheit zwischen Ost und West, ein höherer gegenseitiger Respekt für die im jeweiligen Teil Berlins gelebten Biografien, auch für die von den Menschen in der DDR erbrachten sozialen und kulturellen Leistungen. Über Manches davon wurde in den vergangenen Jahren zu schnell und zu geringschätzig hinweggegangen.

Nur in der Arbeit aller an einer guten Zukunft Berlins kann das Zusammenwachsen gelingen. In der Einheit und in der Vielfalt liegt unsere Stärke.


 

VI.

 

SPD und PDS bilden ihre Koalition in einer der finanziell schwierigsten Situationen Berlins. Die prekäre Haushaltslage drückt Berlin an den Rand der politischen Handlungsfähigkeit. Die Ursachen für diese Lage sind auch aus der historischen Entwicklung zu verstehen. Die Isolierung des einst größten Wirtschaftsstandorts in Deutschland hat im Westteil der Stadt nach dem Krieg, im Ostteil nach dem Zusammenbruch der RGW-Staaten zu massiver Deindustrialisierung geführt. Hinzu kam eine massive Subventionierung beider Stadthälften, die nach der Einheit entfiel. Das Tempo ihres Abbaus durch die damalige Bundesregierung war unverantwortlich und ist bis heute eine schwere Hypothek für die Stadt. Nach wie vor leidet Berlin zudem an teilungsbedingten Sonderlasten, einer zu großen öffentlichen Verwaltung und dem Ausbleiben ausreichender privater Investitionen.

Erste Erfolge einer Konsolidierung des Haushaltes aus eigenen Kräften wurden durch die Folgen der durch den Bankenskandal ausgelösten Bankenkrise wieder zunichte gemacht. Sie verschärfen die ohnehin dramatische Situation. Allen Formen von Filz, Vetternwirtschaft und Korruption sagt die Koalition den Kampf an.

Die Bewältigung der Haushaltsprobleme hat die erste Priorität in der Koalitionspolitik. Mit Blick auf die Zukunftschancen unserer Kinder und Enkelkinder, aber auch weil ein finanziell ausblutendes Gemeinwesen seinen Aufgaben nicht mehr gerecht werden kann, muss der Haushalt strukturell in Ordnung gebracht werden. Dies wird zwei Legislaturperioden in Anspruch nehmen. Die Koalition will die Nettoneuverschuldung bis zum Jahr 2009 auf Null reduzieren. Auch wenn das erreicht wird, wird die Zinslast jährlich über 2,8 Mrd. Euro – mehr als ein Viertel der prognostizierten Steuereinnahmen - beanspruchen, Finanzmittel, die nicht für Investitionen im Wettbewerb der Regionen zur Verfügung stehen.

Die Koalition steht deshalb vor außerordentlichen Aufgaben und Entscheidungen. Diese Situation macht in den kommenden Jahren weitere tief greifende Strukturreformen notwendig. Die Koalition wird sich dieser Herausforderung stellen und die notwendigen Maßnahmen so sozial gerecht wie möglich und mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Stadt ergreifen.

Die Misere der öffentlichen Finanzen erzwingt die grundlegende Reform der staatlichen und städtischen Strukturen. Die Koalition will diese Situation nutzen, um die notwendige Modernisierung bei gleichzeitiger Reduktion der staatlichen Aktivitäten auf den Weg zu bringen. Wer die Kosten für den öffentlichen Dienst absenken will, muss bereit sein, die Anforderungen an, die Aufgaben des Verwaltungsapparats und die Abläufe im Verwaltungsapparat neu zu strukturieren.

Soziale Gerechtigkeit und öffentliche Sicherheit sind für uns die zentralen Aufgaben des staatlichen Handelns. Daran darf es keine Abstriche geben, aber Effizienzsteigerung tut auch hier not.

Wir wollen den Prozess der Senkung der Personalkosten sozial verträglich und ohne betriebsbedingte Kündigungen gestalten. Dazu brauchen wir die Bereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und ihrer Gewerkschaften zu einem solidarischen Beschäftigungspakt. Dies ist die Voraussetzung, damit die Umstrukturierung mit der Personalfluktuation ohne betriebsbedingte Kündigungen einher gehen kann.

 

VII.

 

Die Koalition will, dass Berlin seine Rolle als Hauptstadt für ganz Deutschland erfüllt. Berlin wird immer mehr Orientierungs- und Treffpunkt der Republik. Berlin will eine gute Partnerin für alle Länder und Städte der Republik in Ost und West, in Nord und Süd und ein Forum der ganzen Nation sein. Von Berlin gehen wichtige Initiativen für das ganze Land aus. Die Koalition will zusammen mit anderen gesellschaftlichen Kräften einen transparenten und gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Aufgaben und Chancen Berlins für ein föderal strukturiertes und sich europäisch integrierendes Deutschland initiieren. Die Koalition wirbt um die Solidarität des Bundes und der Länder, die Stadt bei dieser Aufgabe zu unterstützen und ihr die Wahrnehmung der Hauptstadtfunktion im Interesse aller Regionen und der Bundesrepublik als ganzem zu ermöglichen.

Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wir wissen um die besondere Verpflichtung Berlins gegenüber dem Bund und zu bundesfreundlichem Verhalten. Wir wissen um die Erwartungen des Bundes und der Länder, die an die Politik Berlins mit Blick auf ihre Hauptstadtfunktion gerichtet sind. Berlin repräsentiert eine der führenden Industrienationen der Welt, die in die westliche Wertegemeinschaft eingebunden ist, die der Organisation der Vereinten Nationen und dem nordatlantischen Bündnis angehört, die die Erweiterung der Europäischen Union anstrebt und die zahlreiche weitere internationale Verpflichtungen erfüllt. In Berlin ist aufgrund seiner Erfahrung mit Teilung und Wiedervereinigung das Bewusstsein über die Bedeutung dieser Bindungen besonders hoch. Die Koalition wird den Verpflichtungen und Erwartungen, die aus der Funktion Berlins als Hauptstadt Deutschlands resultieren, daher nachkommen.

 

 

VIII.

 

Die Koalition legt mit dieser Vereinbarung den politischen Grundstein für die Entwicklung Berlins zu einer leistungsfähigen und attraktiven Metropole an der früheren Demarkationslinie der einstigen Blöcke. Berlin ist durch seine geographische Lage in der Mitte Europas Bindeglied zwischen West und Ost. Als westlichste Stadt des Ostens und als östlichste Stadt des Westens kann Berlin seine Erfahrungen aus der Zeit der Teilung und der Wiederherstellung der Einheit der Stadt produktiv für sich und ganz Deutschland nutzen. Die Koalition will diesen Standortvorteil ausbauen und Berlin zu einem Zentrum der Integration Europas machen.

Berlin ist als Metropole in der Region Berlin-Brandenburg Motor und Garant der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Die Koalition will daher alle Anstrengungen unternehmen, um die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg noch in diesem Jahrzehnt zu vollziehen.

Ein gemeinsames Land wird eine starke Rolle im föderalen Deutschland und in der Mitte Europas spielen.


 

IX.

 

Die Koalition will eine Stadt, in der die Menschen gern leben. SPD und PDS bekennen sich zu einer Politik, die städtische Lebensqualität, kulturelle Vielfalt und soziale Stadtentwicklung miteinander in Einklang bringt.
Berlin kann es sich nicht leisten, seine Talente brach liegen zu lassen. Wir wollen die gleiche Teilhabe von Frauen und Männern in der Gesellschaft, im Arbeitsleben, in Bildung und Ausbildung. Wer Chancengleichheit für Frauen und Männer verwirklichen will, muss seine politischen Ziele und Prozesse an dem Ziel der Gleichstellung ausrichten.

Die Koalition wird die Querschnittsaufgabe Gender Mainstreaming fördern und vorhandene Benachteiligungen von Frauen weiter abbauen.


 

X.

 

Es geht darum, eigene Initiative an die Stelle von Subventionsmentalität zu stellen, Selbstmitleid durch Kreativität zu ersetzen. Es geht darum, mit Transparenz und einer offenen Diskussion über die Probleme und Chancen der Stadt zu gemeinsamen Lösungen für die Zukunft zu kommen.

Die Verabredungen dieser Koalitionsvereinbarung werden für die Dauer der Wahlperiode getroffen. Für die grundlegende Konsolidierung des Haushaltes und für die Sicherung der Zukunftsfähigkeit Berlins stellt diese Koalition Weichen, die weit über die Wahlperiode hinausweisen.

 

 

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