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Sozialismus historisch legitim
Die „deutsche Linke“, insbesondere die
Linkspartei, diskutiert kontrovers über die historische Legitimität des „frühen
Sozialismus“, sowohl in der Sowjetunion als auch in der DDR. Aktueller Kern der
Problematik ist der produktiv-kritische Umgang mit den Verbrechen Stalins, die unbedingt
in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen und daher als antikommunistisch
gewertet werden müssen.
Dazu hier ein Dokument von der 5.
Tagung des 10.Landesparteitages der Berliner Linkspartei (Februar 2007), und
zwar der Antrag 3, der von Kurt Goldstein, Arne Brix, Ellen
Brombacher, Dorothea Döring, Rim Farha, Thomas Hecker, Wulf Kleus, Carsten
Schulz, Sahra Wagenknecht und Stefan Doernberg eingereicht worden war.
Der
Feststellung des Berliner Landesvorstandes vom 23.01.2007 Rechnung tragend, in
der Intensivierung der Geschichtsdebatte läge eine vorrangige Aufgabe der
politischen Bildung, haben die Einreicherinnern und Einreicher ein Diskussionsmaterial
»Fünf Überlegungen zum Umgang mit Geschichte« erarbeitet, welches als Anlage
beigefügt ist.
Der
Landesparteitag möge beschließen, dass dieses Diskussionsmaterial in
Verantwortung der Landesgeschäftsstelle bzw. der Bezirksvorstände den Basisorganisationen
der Linkspartei.PDS Berlin übermittelt wird, damit es für die Geschichtsdebatte
zur Verfügung steht.
Fünf Überlegungen zum Umgang mit
Geschichte
Zu allen
Zeiten versuchten die jeweils Herrschenden aus dem Gang der Geschichte eine
Rechtfertigung für eigenes Handeln und die Aufrechterhaltung der eigenen
Herrschaft abzuleiten. Es überrascht nicht, dass die Protagonisten des Kapitals
schon das Nachdenken über eine nicht vom Prinzip der Profitmaximierung
dominierte Gesellschaftsordnung verteufeln. Ihr besonderer Hass jedoch richtet
sich gegen den gewesenen europäischen Sozialismus. Nicht minder verhasst ist
ihnen zum Beispiel das sozialistische Kuba oder Chavez, der Verfechter des Sozialismus
des 21. Jahrhunderts. Dieser Hass ist logisch. Natürlich ist es der
Kapitallogik zufolge ein Kapitalverbrechen, Hand an Privatbesitz von
Produktionsmitteln zu legen oder gelegt zu haben. Der Kapitallogik nach ist das
ein Eingriff in Freiheitsrechte. Gemeint ist das Recht auf Ausbeutung. Die
Restauration des Kapitalismus zerstört alle Illusionen, Kapitallogik könne der
Vernunft und dem Humanismus Rechnung tragen. Der »moderne« Kapitalismus treibt
täglich mehr Menschen ins Elend, nicht zuletzt durch grauenhafte, die Existenz
der gesamten Zivilisation gefährdende imperialistische Kriege. Das Leben selbst
befördert erneutes Nachdenken über Luxemburgs Feststellung: »Sozialismus oder
Barbarei«. Da Angriff als die beste Verteidigung gilt, wird dem gewesenen
Sozialismus von seinen Gegnern unterstellt, er sei zuförderst barbarisch
gewesen. Barbarische Züge des Kapitalismus hingegen, sofern sie überhaupt
zugegeben werden, sind lediglich Fehlentwicklungen. Das US-Lager Guantánamo ist
ein leicht stinkender Ausfluss im edlen Kampf gegen den Terror. Das Zuchthaus
Bautzen jedoch war ein Hort des Verbrechens. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Die
USA sind der engste Verbündete der Bundesrepublik Deutschland. In solche
Schubladen werden Geschichte und Gegenwart einsortiert.
Dass die
Herrschenden das so wünschen, ist normal. Wenn auch Linke sich diese Sichtweise
zu Eigen machen, trifft das Gegenteil zu: Es ist anormal. Führende Genossinnen
und Genossen der PDS resp. Linkspartei.PDS haben in der Vergangenheit so manchen
Kotau vor der veröffentlichten Meinung gemacht. Erinnert sei an den Umgang mit
der MfS-Problematik von Anbeginn, an die Kette von Entschuldigungen, zum
Beispiel die 1946 vollzogene Vereinigung von SPD und KPD oder den Mauerbau
betreffend, erinnert sei an Äußerungen, mit dem Untergang der DDR sei
Sozialismus in Deutschland erst wieder möglich geworden oder dass die DDR
partiell totalitärer gewesen sei, als Nazideutschland, erinnert sei an die
Präambel zum Berliner Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2002. Die Aufzählung ließe
sich mühelos fortsetzen.
Auch in
jüngster Vergangenheit fehlte es nicht an Würdelosigkeiten. Sei es die
Mitwirkung der PDS an Geschichtsklitterungen im Zusammenhang mit der früheren
Haftanstalt des MfS in Hohenschönhausen. Sei es die Rolle unserer Partei bei
der Errichtung des Gedenksteins »Den Opfern des Stalinismus« auf dem Friedhof
der Sozialisten in Friedrichsfelde – um nur zwei Beispiele zu erwähnen. Um
Missverständnisse zu vermeiden: Die Autoren dieses Diskussionspapiers reden nicht
einem unkritischen Umgang mit unserer Geschichte das Wort. Widerstand gegen
Denunziationen ist kein Verzicht auf Kritik. Wir sind für eine Versachlichung
der Geschichtsdebatte, frei nach Friedrich Engels: Ȇber geschichtliche
Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen
zu verstehen und damit auch ihre Folgen, die noch lange nicht erschöpft sind.«
Das von Michael Schumann im Auftrag einer Arbeitsgruppe auf dem 89er
Sonderparteitag vorgetragene Referat zeichnet sich durch das Bemühen aus,
Ursachen für die tiefe Krise verstehen zu helfen, in der sich nicht nur die DDR
sondern vor allem auch die Sowjetunion befand. Noch gingen die Delegierten des
Sonderparteitages von der Fortexistenz des real existierenden europäischen Sozialismus
aus. Nicht die Verdammung seiner Geschichte sondern Analyse war angesagt.
Schlussfolgerungen für die Zukunft sollten gezogen werden; es kam bekanntlich
anders. Man muss nicht mit allen Aussagen des Referats übereinstimmen – dessen
Duktus ist nicht denunziatorisch. Wir plädieren dafür, es zu lesen. Diejenigen,
die heute am lautesten vom Grundkonsens des 89er Parteitages sprechen und
diesen beschwören, haben die Aussagen Schumanns zu den Errungenschaften des
Sozialismus in der DDR, zur weltgeschichtlichen Bedeutung der
Oktoberrevolution, zur Überwindung von Faschismus und Krieg längst verdrängt.
Aber – eine Erneuerung die das vergäße, so Schumann, träte mit einer neuen
Unmoral an. Wie redlich also ist es, dass entsprechende Aussagen im Entwurf der
programmatischen Eckpunkte vollends fehlen? Wie redlich wird die gegenwärtige
Geschichtsdebatte geführt?
Am 23.
Januar 2007 fand im Berliner Landesvorstand der Linkspartei.PDS zu dieser eine
ausführliche Verständigung statt. In der Sofortinformation über diese Sitzung
hieß es u.a.: »In der ... Diskussion wurde eingeschätzt, dass die Debatte in
unserer Partei mit großer Heftigkeit geführt wird. Dabei wird deutlich, dass
klare Positionen, die Vorstände formuliert haben, nicht ausreichend in der
Basis verankert sind. Es zeigt sich ein Trend, sich ›wider den Zeitgeist‹ zu
stellen, indem unter dem Druck der öffentlichen Verdammung der DDR von unserer
eigenen Kritik Abstand genommen wird. Der antistalinistische Grundkonsens –
unwiderruflicher Bruch mit dem Stalinismus als System – wird schwächer. Deshalb
sieht der Landesvorstand in der Intensivierung der Geschichtsdebatte eine
vorrangige Aufgabe der politischen Bildung. Dabei geht es nicht um historische
Aufklärung, sondern um die Bewertung von Geschichte.«
Warum
eigentlich keine Aufklärung? Aufklärung bedeutet, Licht in die Dunkelheit der
Unwissenheit und der Vorurteile zu bringen. Ist das Wissen über Geschichte so
gewaltig? Sind die nicht zuletzt medial erzeugten Vorurteile so unerheblich?
Kant hat die Aufklärung 1784 als den »Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit« definiert. Aufklärer sein heißt nach Kant,
»den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen«. Ist das überholt? Können wir die sich ständig perfektionierende
Massenmanipulation einfach ignorieren? Aus welchem Grund konstruiert der
Berliner Landesvorstand der Linkspartei.PDS faktisch einen Gegensatz zwischen
politischer Bewertung und historischer Aufklärung? Wird als Begründung
angeführt, wir hätten in der DDR gelebt und bedürften der Aufklärung daher
nicht? Mitnichten. Der Landesvorstand selbst gibt eine andere Antwort. In der
bereits erwähnten Sofortinformation heißt es weiter zur Geschichtsdebatte: Diese
»ist auch für die neu entstehende Partei wichtig, sie betrifft junge und alte
Parteimitglieder sowie Ost- und Westlinke.« Zumindest den Jungen und den
Westlinken aber käme doch ein wenig Aufklärung im Sinne Kants eher gelegen.
Doch genau diese scheint nicht erwünscht; sie zerstört den Schubladeneffekt.
Marx und Engels definierten das Wesen der Aufklärung. Sie sei »...ein offener,
ein ausgesprochener Kampf gegen ... alle Metaphysik«. Der zeitgeistdominierte
Umgang mit der Geschichte des frühen Sozialismus allerdings ist zutiefst
metaphysischer Natur. Bemühen wir noch einmal Marx und Engels:
»Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe,
vereinzelte, eins nach dem anderen und ohne das andre zu betrachtende, feste,
starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in
lauter unvermittelten Gegensätzen: seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was
darüber ist, ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es
existiert nicht: ein Ding kann ebenso wenig zugleich es selbst und ein andres
sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung
stehen ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns
auf den ersten Blick deswegen äußerst plausibel, weil sie diejenige des sog.
gesunden Menschenverstandes ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so
respektabler Geselle er auch in dem hausbackenen Gebiet seiner vier Wände ist,
erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der
Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach
der Natur des Gegenstandes ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar
notwendig ist, stößt doch jedes Mal früher oder später auf eine Schranke,
jenseits welcher sie einseitig, borniert, abstrakt wird und sich in unlösliche
Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang,
über ihrem Sein ihr Werden und Vergehen, über ihrer Ruhe ihre Bewegung
vergisst, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.«
Vergessen
wir über die einzelnen Dinge deren Zusammenhang nicht. Ursache und Wirkung
stehen eben nicht in starrem Gegensatz zueinander. Positiv und negativ
schließen einander eben nicht absolut aus.
Man kann
den real existiert habenden Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts sehr
unterschiedlich beurteilen. Dabei sollte man jedoch seine Daseinsweise niemals
von den Gesamtumständen trennen, unter denen er um seine Existenz kämpfte.
Genau hier
liegt die scharfe Trennung zwischen einer dialektischen Sicht auf unsere eigene
Vergangenheit und einem metaphysischen Herangehen. Metaphysik und Voluntarismus
in dieser Frage können aus ehrenwerten Träumen ebenso resultieren wie aus
manipulativen Absichten: Wer realen Sozialismus an vollendeten kommunistischen
Verhältnissen misst, kann nur zu dem Schluss gelangen, das Reale sei nicht das
Erwünschte. Die auch in der Linkspartei nicht beendete Auseinandersetzung zum
Thema Menschenrechte, erinnert sei an die Kubadebatte, widerspiegelt dieses
Problem. Eine Übergangsperiode, also eine Übergangsgesellschaft - nichts
anderes kann der frühe Sozialismus sein – ist alles andere als vollkommen. Es
ist daher schlicht unredlich, das Erwünschte zur Denunziation des Realen zu
benutzen, zu verlangen, das Reale müsse von heute auf morgen so werden, wie das
Erwünschte – wohlwissend, dass nur ein Wundertäter das bewerkstelligen könnte.
Das angestrebte Ziel zu vergessen ist auf Dauer tödlich; das Ideal mit der
Wirklichkeit gleichzusetzen tötet auch.
Die von
den Autoren dieses Papiers geführten Auseinandersetzungen um eine historisch
gerechte Bewertung des Sozialismus und daher auch der DDR waren zu keiner Zeit
von Vereinfachungen gekennzeichnet. Gerade auch deshalb waren wir nie bereit,
zu Kritisierendes und Bewahrenswertes einfach schematisch getrennt voneinander
zu betrachten. Wir waren und sind vielmehr davon überzeugt, dass gerade ein
differenzierter Umgang mit den sozialistischen und nichtsozialistischen Zügen
der DDR ein grundsätzliches Bekenntnis zu ihr ermöglicht.
Den heute
Herrschenden geht es absolut nicht um eine differenzierte Analyse der
Sozialismusgeschichte, auch nicht um eine objektive Bewertung der Geheimdienste
der untergegangenen sozialistischen Länder. Erinnert sei an die
Auseinandersetzungen um das ehemalige MfS-Untersuchungsgefängnis in
Berlin-Hohenschönhausen. Die endlose Debatte über das MfS bedient einen anderen
Zweck. Indem das MfS uneingeschränkt verteufelt wird, wird zum
Kapitalverbrechen erklärt, dass die DDR Instrumente zu ihrem Schutz geschaffen
hatte. Diese Denunziation eines Teils der Staatsmacht greift auf die
Gesamtstrukturen des frühen Sozialismus über. Von der Verteufelung des MfS zur
These vom Unrechtsstaat DDR ist es ein äußerst kurzer Weg. Die Unerbittlichkeit
der Bewertung der Machtstrukturen des sozialistischen Versuchs resultiert aus
der Ablehnung, dass da etwas anderes praktiziert wurde, als Kapitalverwertung.
Aus der Ablehnung des Sozialismus kommt der Hass der veröffentlichten Meinung,
nicht aus den Fehlern und Gebrechen der nichtkapitalistischen Ordnung. Und der
Hass kommt aus dem Wissen, dass das zunehmend mörderische Funktionieren des
Profitmechanismus selbst das Verlangen nach einer gesellschaftlichen
Alternative stimuliert.
Unausbleiblichem
Widerstand soll daher der Gedanke an eine alternative Perspektive genommen
werden.
Zu diesem
Zwecke wird die angebliche Untauglichkeit eines kommunistischen Gemeinwesens
aus der Geschichte des real existiert habenden Sozialismus abgeleitet. Nichts
wird seit Gorbatschow sosehr für Antikommunismus instrumentalisiert, wie eine
der sogenannten Totalitarismusdoktrin unterworfene Interpretation der
Geschichte der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder.
Zweifellos
scheiden sich an der Frage der Bewertung der Oktoberrevolution sowie der
nachfolgenden Entwicklungen in der Sowjetunion die Geister. Es ist vollkommen
verständlich, dass in diesem Zusammenhang das Gespräch immer wieder auf Stalin
kommt. Bereits 1995 – massiv konfrontiert mit dem Vorwurf, sie hätten ein
apologetisches Verhältnis zu unserer Vergangenheit - entschlossen sich daher
Genossinnen und Genossen, darunter Michael Benjamin und Sahra Wagenknecht, ihre
Position zu dieser Problematik zu Papier zu bringen.
Öffentlichkeit,
auch innerparteiliche, blieb ihnen interessanterweise versagt. In dem
Positionspapier heißt es u.a: »Wir bagatellisieren die Fehler, Irrtümer und
Strukturdefizite des frühen Sozialismus nicht, schon gar nicht die begangenen
Verbrechen. Zugleich entspricht es unserer Überzeugung, dass die Welt
berechenbarer und um viele Hoffnungen reicher war, als dieser unvollkommene,
frühe Sozialismus ungebremste Kapitalherrschaft auf diesem Planeten verhinderte...
Zweifellos war der frühe Sozialismus von sozialistischen und
nicht-sozialistischen Zügen geprägt. Man kann ihn unseres Erachtens jedoch
nicht in sozialistische und nicht-sozialistische Perioden aufteilen. Und wir
lehnen es ab, die schmerzhafte Widersprüchlichkeit frühsozialistischer
Entwicklung dadurch aus der Welt schaffen zu wollen, dass die Periode von 1917
bis 1990 als nicht-sozialistisch aus der Geschichte des gesellschaftlichen
Fortschritts gestrichen wird.«In der erwähnten Erklärung wird auch die
herausragende Rolle der Sowjetunion beim Sieg über den Hitlerfaschismus
hervorgehoben. Am liebsten würde man die Sowjetunion und deren Verdienste bei
der Zerschlagung der faschistischen Bestie aus dem Gedächtnis der Menschheit
streichen. Doch solange das nicht möglich ist, sollen die Leistungen der
Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg wenigstens weitestgehend
diskriminiert werden.
Und das
funktioniert nur, wenn Menschen eingeimpft wird, der antifaschistische Kampf
des sowjetischen Volkes sei ein minderwertiger gewesen. Minderwertig deshalb,
weil sich sozusagen lediglich ein Unrechtssystem gegen ein anderes zur Wehr
gesetzt hätte und weil im Ergebnis des Sieges des einen Systems über das andere
lediglich neues Unrecht installiert worden sei. Und schon ist der überragende
Anteil der UdSSR an der Zerschlagung der faschistischen Kriegs- und
Mordmaschinerie beinahe selbst ein barbarischer Akt. Wozu nun das Ganze? Wozu
soviel ideologisches Bemühen um Vergangenes, noch dazu, da die Sowjetunion gar nicht
mehr existiert? Es geht darum, dem gewesenen realen Sozialismus das vielleicht
einschneidendste historische Verdienst abzusprechen: die Zerschlagung der
realen Barbarei. Nicht zuletzt auf diese Weise soll Menschen, die in Ländern
des real existiert habenden Sozialismus lebten und jenen, die allen jüngsten
Entwicklungen zum Trotz ihrer Gesinnung treu geblieben sind, jegliche
Identifikationsmöglichkeit genommen werden. Nichts, aber auch gar nichts war
etwas wert – so lautet die Botschaft.
Auch die
DDR wird auf ihre realen und vermeintlichen Negativseiten reduziert. Nicht nur
durch politische Gegner. So wird im Entwurf der programmatischen Eckpunkte
einer zukünftigen Linkspartei der gewesene frühe Sozialismus auf die Formel
reduziert: »Wir lehnen jede Form von Diktatur ab und verurteilen den
Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus«. Da nun der
gewesene europäische Sozialismus in Gänze stalinistisch gewesen sein soll, ist,
der Logik dieser Aussage zufolge, selbiger auch in Gänze verbrecherisch
gewesen. Das kommt dem »Niveau« der am 25. Januar 2006 beschlossenen
Antikommunismusresolution 1481 der parlamentarischen Versammlung des
Europäischen Parlaments in gewisser Weise nahe. Es dürfte außer Zweifel stehen,
dass die übergroße Mehrheit der Mitglieder der Linkspartei.PDS sowohl die
Geschichte des gewesenen Sozialismus als auch ihr eigenes Leben anders
beurteilt. Das wohl ist es, was den Berliner Landesvorstand veranlasste, zu
beklagen, »dass klare Positionen, die Vorstände formuliert haben, nicht
ausreichend in der Basis verankert sind«. Diese »klaren Positionen der
Vorstände« sind nicht die unseren. Wir suchen nach Antworten jenseits der
veröffentlichten Meinung. Für die Zukunft des Sozialismus ist zu fragen: Was
war bewahrenswert? Was darf sich nicht wiederholen? Welches waren die Ursachen
für die nichtsozialistischen Züge des gewesenen Sozialismus; waren sie
unvermeidbar oder hätten sie vermieden werden können? Natürlich kann niemals
als Grundsatz akzeptiert werden, um einer zukünftigen Gerechtigkeit willen den
jetzt Lebenden ins Gesicht zu schlagen. Wir wissen auch, dass Lebenden ins
Gesicht geschlagen wurde. Dennoch meinen wir, dass der gewesene Sozialismus dem
Profitsystem gegenüber historischen Fortschritt verkörperte, auch wenn er
unterlag und alles andere war, als vollkommen. Er war unvollkommen,
gekennzeichnet auch durch Irrtümer und Fehler. Er war nicht frei von Verbrechen
– er war, wie Karl Marx es prognostizierte »... eine kommunistische
Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat,
sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft
hervorgehet, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet
ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.«
Einen Sozialismus zu wünschen, der die Phase seiner Herkunft überspringt und
wie Phönix aus der Asche steigt, ist leider Träumerei. Die Tragik des
untergegangenen europäischen Sozialismus liegt nicht zuletzt darin, dass er im
Überlebenskampf gegen das Kapital zuviel von seiner eigenen Identität preisgab.
Der Sozialismus kam in eine tiefe Krise und dafür ist bei weitem nicht nur der
Gegner verantwortlich zu machen. Die Frage, ob sich der frühe Sozialismus
erschöpfen musste oder ob er – ökonomisch vom ersten Tage an aus der
schwächeren Position agierend – dennoch die Chance gehabt hätte, sich
historisch mit dem ersten Anlauf durchzusetzen, wird uns sicher noch lange
bewegen, ebenso die, welche Fehler und Fehlentwicklungen hätten vermieden
werden müssen und können. Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht;
weder so- noch anders herum. Außer Zweifel steht: Der Sozialismus ist bekämpft
worden, bis aufs Blut. Und sehen wir uns die Welt von heute an, so ist nicht
nur überdeutlich, warum das geschah, sondern die Konsequenzen seines Untergangs
zeichnen sich täglich deutlicher ab. Wir sind weder bereit, so zu tun, als
hätten wir alles richtig gemacht, noch, so zu tun, als hätten wir alles richtig
machen können. Wir sind keine Verschwörungstheoretiker. Diese reduzieren
komplexe Zusammenhänge auf einen Sündenbock. Wir wissen, dass es für den
Untergang des Sozialismus des zwanzigsten Jahrhunderts auf europäischem Boden
vielfältige Gründe gab und wir wissen, dass die Auseinandersetzung über die
Hauptursachen noch lange nicht beendet ist. Letztlich ist im Rahmen dieses
Streits allerdings maßgeblich: War es legitim, die Macht des Kapitals zu
brechen und durch Verhältnisse zu ersetzen, die nicht durch die Jagd nach
Profit bestimmt waren oder machten die Unzulänglichkeiten des frühen
Sozialismus diesen zu einer illegitimen Angelegenheit. Unsere Antwort auf diese
Frage lautet ohne wenn und aber: Der Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts war
historisch legitim.