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Bemerkungen
zu Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“
(verfasst von Wolfgang Wallner F.)
Episches Theater
Entwicklung:
1. Aristotelisch-Lessingsche Dramaturgie
Aristoteles (384 - 321 v. Chr.) bestimmte in seiner Schrift Poetik das
Wesen der Dichtkunst. Der Dichter sollte berichten, was geschehen sein könnte.
Dichtung darf nichts Unwahrscheinliches enthalten, was im wirklichen Leben
niemals geschehen könnte. Aristoteles’ Definition der Tragödie: „Die Tragödie
ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmte
Größe in gewählter Rede, derart, dass jede Form solcher Rede in gesonderten
Teilen erscheint und dass gehandelt und nicht berichtet wird und dass mit Hilfe
von Mitleid und Furcht eine Reinigung von derartigen Affekten bewerkstelligt
wird“.
Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781) begründete auf der Poetik des
Aristoteles die Hamburger Dramaturgie, eine Neubegründung einer nationalen Dramatik.
Diese neue Form des Theaters hat in der Folgezeit nicht nur die Autoren,
sondern auch die Theaterpraxis bestimmt, mit ihr setzte sich Brecht
auseinander. Lessing: (über Aristoteles) „ Man hat ihn falsch verstanden,
falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und
Schrecken, und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das
bevorstehende Übel eines anderen, für diesen anderen, erweckt, sondern die
Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst
entspringt; es ist die Furcht, dass die Unglücksfälle, die wir über diese
verhänget sehen, uns selbst treffen können...., mit einem Worte: diese Furcht
ist das auf uns selbst bezogene Mitleid“.
2. Brechts „Epische Theater“
Nach Brecht soll der Zuseher sich nicht mit den Personen
identifizieren, sondern er soll sich distanzieren. Das epische Theater will den
Zuschauer in eine kritische Distanz zu dem auf der Bühne Dargestellten halten,
will ihm keine allgemeingültigen Lösungen vorexerzieren, sondern zum Nachdenken
anleiten. Er soll nicht kulinarisches Theater genießen, sondern beim Geschehen
mitdenken. Ein solches Verhalten entspricht dem eines Menschen, der weiß, dass
er Natur und Geschichte durch seine Hände verändern kann. Das Epische Theater
bildet die Welt nur modellhaft ab, legt sie dem Zuschauer vor, damit er selbst
eingreifen und die gewonnenen Einsichten bei seiner
gesellschaftlich-praktischen Tätigkeit anwenden kann.
Epische Struktur in „Mutter Courage..“: In der Uraufführung (Zürich
1941), an deren Inszenierung Brecht nicht mitwirkte, wurde die Mutter Courage
von Therese Giese so gespielt, dass der Zuschauer Mitleid mit der tragischen
Mutter empfinden musste, die durch die Schrecken des Krieges ihre Kinder
verlor. Der Ausgang ist wie in der klassischen Tragödie tragisch, weil die
Courage unwissentlich die Kinder ins Verderben stürzt, obwohl sie alles zu tun
glaubt, sie vor den Schrecken des Krieges zu retten. Brecht war über diese
Aufführung bestürzt, da er sich gründlich missverstanden sah. So erarbeitete er
1949 in Berlin eine Modellinszenierung (seine Frau Helene Weigel als die
Courage), in der Weigel die Courage als zornig darstellte. Dieser Zorn war aber
nicht der Zorn der Courage, sondern der Zorn der Schauspielerin über die Courage.
Obwohl die Züricher Aufführung ein großer Erfolg war, hat sie lediglich das
Bild des Krieges als eine Naturkatastrophe und eines unabwendbaren Schicksals
gegeben und noch dazu dem Kleinbürger im Zuschauerraum seine eigene
Unzerstörbarkeit, seine Fähigkeit zu überleben, bestätigt.
Interpretation der Charaktere:
Mutter Courage: Mutter
Courage ist eine Händlerin, die im Dreißigjährigen Krieg als eine den Soldaten
folgende Marketenderin lebt und die ihre Kinder, so weit möglich, aus den Kriegsgeschehnissen
heraushalten will. Zu Beginn des Dramas zeigt sich aber schon, wo sie ihre
Prioritäten setzt: Sie will Eilif vor den Werbern schützen, durch den Handel
mit einem Werber übersieht sie aber, dass Eilif mit dem Werber mitgeht. Sie
stellt ihre Interessen als Händlerin über die der Mutter. So sagt auch einer
der Werber: „Will vom Krieg leben, wird ihm wohl auch etwas geben“. Als Marxist
ist der Widerspruch im Handeln der Courage für Brecht aber keine tragische,
unabwendbare Katastrophe. Die kapitalistische Gesellschaft ist Ursache dieses
Handelns, Mutter Courage ist eine Vertreterin des Kapitalismus, deren Grundlage
der Handel, das Verschaffen von persönlichen Vorteilen ist. Diese Haltung wird
auch in der Szene deutlich, in der die Courage mit dem Koch über den Verkauf
des Kapauns handelt. Der Koch ist in einer Zwangslage, da er für seinen
Feldwebel Fleisch auftreiben muss. Der Preis für das Tier wird vorerst, den
Gesetzen des Angebotes und der Nachfrage gehorchend, immer mehr gesenkt. Als sie
ihren Sohn Eilif (als Held) entdeckt, treibt sie, obwohl das Essen auch ihrem
Sohn zugute kommen soll, den Preis in unverschämte Höhe. Die Courage sucht im
Krieg ihre Vorteile, als ein Gerücht über Frieden ausbricht, glaubt sie,
ruiniert zu sein, doch als sie merkt, dass der Krieg weitergeht, ist sie wieder
obenauf. Im gesamten Drama verflucht sie nur dann einmal den Krieg, als ihre
Tochter Kattrin überfallen und verstümmelt wird. In der 7. Szene behauptet sie,
dass der Krieg den Menschen besser ernähre, und dass auch der Friede den
Schwachen vertilgt. Ihrer kapitalistischen Gesinnung folgend, ist sie auch
schuld an der Nichtrettung ihres Sohnes Schweizerkas. Sie will ihn durch
Bestechung vor der Hinrichtung bewahren. Der Versuch gelingt aber nicht, da sie
ihre wirtschaftliche Grundlage gegen das Leben des Sohnes eintauschen muss. Sie
handelt zu lange und so wird Schweizerkas doch hingerichtet. Als sie im letzten
Moment doch bereit wäre, ihren gesamten Handel gegen das Leben des Sohnes
einzutauschen, ist es schon zu spät. Sie hat wieder ihre wirtschaftlichen
Interessen über das Leben des Sohnes gestellt. Als sich die Courage und ein
junger Soldat, dem Ungerechtigkeit unerträglich ist, beim Offizier beschweren
wollen, sagt die Courage zum Soldaten, dass jeder einmal kapitulieren müsse,
weil die Wut verraucht und ein Aufbegehren den Geschäften schadet. Sie singt
das Lied von der großen Kapitulation. In diesem Lied werden Entwicklungsphasen
der Courage geschildert. Zu Beginn ist sie ein optimistisches Kind, das sich
für etwas Besonderes hält, dieser Teil endet mit einer optimistischen
Redewendung (Jeder ist seines Glückes Schmied). Weiter wird im Lied die
folgende Erkenntnis erzählt: Die Courage hat Kinder und kein Geld. Wieder
folgen Redewendungen, diesmal aber solche, die nach Anpassung verlangen (Man
muss sich mit den Leuten stellen, eine Hand wäscht die andere, man kann nicht
mit dem Kopf durch die Wand). Im Weiteren werden diese beiden Erfahrungen
gegenüber gestellt, der grenzenlose Optimismus und die Resignation ( Der
Tüchtige schafft es, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, wir werden den Laden
schon schmeißen - entgegen - Man muss sich nach der Decke strecken). Die
einzelnen Strophen enden: „Der Mensch denkt: Gott lenkt. Keine Red davon!“ Die
letztendlich gefasste Lebensweisheit der Courage lautet also Anpassung. Durch
diese Anpassung kommt es zu einem Widerspruch zwischen ihren
Geschäftsinteressen und den menschlichen Bedürfnissen, der unter den
Bedingungen dieser Gesellschaft unüberbrückbar ist und an dem ihre Kinder
sterben.
Eilif: Eilif ist ein tapferer Mann. Im Krieg ist er ein
Held, weil er brutal Bauern tötet und das Vieh raubt. Seine Mutter hat ihm
nicht Moral beigebracht, da sie Krieg und Frieden nur aus einem geschäftlichen
Gesichtspunkt betrachtet. So hat sie ihm auch nicht gesagt, wie man sich
verschiedenen Gegebenheiten entsprechend verhält. Als Eilif sich im
(vermeintlichen) Frieden genau so verhält wie im Krieg, wird er erschossen.
Schweizerkas: Da Schweizerkas nicht klug ist, erzieht ihn die Courage
zur Redlichkeit. Er liefert die Regimentskasse auch dann nicht aus, als sein
Leben bedroht ist. Ohne seinen eigenen Vorteil zu beachten, richtet er sich
nach den Lehren seiner Mutter. Durch die beabsichtigte Rettung der Kasse wäre
nur weiter Krieg geführt und Menschen wären getötet worden. Es war also keine
moralisch zu rechtfertigende Tat gewesen. Durch das zu lange Handeln seiner
Mutter wird auch er hingerichtet.
Kattrin: Kattrin ist ein fühlender Mensch, der stumm und
verunstaltet ist und daher zu einem normalen Leben nicht fähig. Sie erhält die
Wunden, als sie für den Handel ihrer Mutter tätig ist. Kattrin streichelt einen
verwundeten Igel und schaukelt einen Säugling. Ihre Menschlichkeit ist jedoch
stumm. Als sie vollkommen uneigennützig ihre Menschlichkeit artikuliert
(Trommel am Dach), wird sie getötet. In ihrer Figur erweist sich, dass die
Möglichkeit eines sozialen Daseins einer kapitalistisch orientierten
Gesellschaft unterliegen muss. Als Kattrin getötet wird, halten sich die
anwesenden Bauern heraus, obwohl durch den beabsichtigten Angriff auf die Stadt
Halle eigene Verwandte ums Leben kommen könnten. Trotzdem gibt die Tat Kattrins
auch Hoffnung gegen die Ideologie der Anpassung: Ein Bauernsohn lässt sich
anstecken und unterstützt Kattrin.
Yvette Pottier: Im Lied vom Fraternisieren erzählt die Hure über
die aus ihrer Sicht einzige Möglichkeit, den Krieg zu überleben, indem sie bei
Gefahr durch Feinde ihren Körper einsetzt.
Allgemein:
Die Courage geht in zweifacher Hinsicht durch die Handlung des
Krieges. Sie sieht den Krieg in ökonomischer Sicht, gewinnt und verliert auch
wieder. Die Mutter jedoch verliert alles: ihre Kinder, da im Krieg eine
Bedingung geschaffen wird, unter der ein normales menschliches Leben nicht
möglich ist. Im Drama erkennt die Courage, dass die Ursache des Krieges in den
Macht- und Wirtschaftsinteressen der Herrschenden liegt. Sie täuscht sich
allerdings in der Ansicht, dass auch „einfache“ Leute am Krieg gewinnen können.
Brecht schuf das Werk aus marxistischer Sicht, sowohl in der
Darstellung des Krieges und seiner Folgen für die handelnden Personen als auch
in der Art der Inszenierung (episches Theater, siehe oben). „Mutter Courage und
ihre Kinder“ ist ein großartiges Gesamtkunstwerk und vorbildhaft im Bereich des
politisches Dramas.
Wichtig erscheint, dass zum Unterschied zur Aristotelisch-Lessingschen
Dramaturgie im epischen Theater kein, eigentlich auch so beabsichtigtes
egoistisches Mitleid mit den dargestellten Personen entsteht (siehe oben
Lessing: ...diese Furcht ist ein auf uns selbst bezogenes Mitleid“), sondern
der Zuseher, durch die Form des epischen Theaters bedingt, aus der Handlung und
dem Mitleid herausgetreten, eine „wissenschaftlichere“ Betrachtungsweise
ermöglicht bekommt, die ihm die Möglichkeit zur Reflektion und zum
Andershandeln gibt. Das Mitleid wird dadurch auch von einem egoistischen
Selbstmitleid zu einem soziologischen und humanistischen Mitleid gewandelt.
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